Wenn Künstler vom unbestrittenen Rang eines Manfred Trojahn
sich nicht nur für gesellschaftliche Fragen interessieren,
sondern sich als Künstler kunstpolitisch positionieren und
polarisieren, so ist das nur zu begrüßen. In der Tat
gibt es manches zu beklagen und zu befürchten. Kultur und Musik
verkümmern nicht selten zur „Petersilie auf der Bratenschüssel“,
wie es ein früherer Kollege einmal trefflich formuliert hat.
Beachtenswert ist auch, wenn ein Komponist nicht nur aus seiner
subjektiven ästhetischen Position heraus argumentiert, sondern
– geschichtsphilosophisch munitioniert – grundlegende
Gedanken über Kunst, Gesellschaft und Utopie zu Papier bringt
und Stellung bezieht.
Nur sollte er dann auch redlich und differenziert argumentieren
und nicht den Eindruck erzeugen, ihm gehe es letztlich weniger um
das Bewusstsein der Gesellschaft für die existentielle Bedeutung
der Künste, sondern um neo-feudalen Standesdünkel gepaart
mit Ressentiments gegen etwas, was der Verfasser nebulös die
,,Pädagogisierung der Gesellschaft“ nennt.
Erlauben Sie mir die Stellungnahme zu drei Punkten:
Die These von der Unterminierung der von Trojahn hochgehaltenen
Utopiefähigkeit der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts
durch kleinbürgerliche Selbstgenügsamkeit und Konsumorientierung
ist arg grob gestrickt.
Da hätte (wenn denn schon Bloch bemüht wird) ein Blick
in Horkheimers/Adornos Klassiker „Dialektik der Aufklärung“
genügt, um den Zusammenhang von (bürgerlicher) Freiheit,
Vernunft und Kultur als komplexes – eben dialektisches –
Phänomen zu begreifen. Oder will man ernsthaft behaupten,
dass „die großen künstlerischen Entwürfe
des 19. Jahrhunderts“ mit einem „Klima gefährdeter
Tolerierung“ korrespondiert hätten, es dem Künstler
also offensichtlich trotz (oder wegen?) der Zensur möglich
gewesen sein soll, „mit einer an der Auseinandersetzung
interessierten Gesellschaft in Beziehung zu treten“? Eine
solche Geschichtsdeutung ist mindestens naiv. Zum einen verkennt
sie, welchen ungeheueren Einschränkungen künstlerische
Produktion etwa zu Metternichs Zeiten unterworfen war und zum
anderen ignoriert eine solche Verklärung autonomer Künstlerschaft,
dass im Zuge von Industrialisierung, Verstädterung, Armut
und Kinderarbeit im 19. Jahrhundert überhaupt nur vergleichsweise
wenige die Chance hatten, einer „interessierten Gesellschaft“
anzugehören, mit der Künstler „in Beziehung“
hätten treten können.
Mit den weiterhin bemühten Kategorien „Werden“
und „Sein“ verhält es sich nicht anders. Worauf
basiert das fallbeilartige Urteil Trojahns, dass der offensichtlich
als Totengräber kultureller Werte schuldig gewordene „Kleinbürger“
keinen verbindenden Wertekanon des „Werdens“ kenne
und folglich systemimmanenter, kulturblinder Genügsamkeit
im „Sein“ fröne?
Hat es denn im 20. Jahrhundert gar keine gesellschaftlichen und
kulturellen Fortschritte gegeben? Sind die bildungspolitischen
Forderungen und Errungenschaften der 60er- und 70erJahre (zumindest
im Vergleich zum 19. Jahrhundert!) – PISA hin oder her –
nicht auch Zeichen von steigendem Bildungsbewusstsein und von
Chancengleichheit?
Oder geht es Trojahn gar nicht darum, sondern allein um den wohlfeilen
Bannspruch gegen Massenkultur, Privatfernsehen und eben die ganze
„kleinbürgerliche“ Konformität und Gleichmacherei,
ohne sich der Mühe zu unterziehen, (Musik-)Kultur nicht ausschließlich
aus der Perspektive von Witten und Donaueschingen zu sezieren,
sondern als lebendiges, widersprüchliches, natürlich
auch bedrohtes und bildungsrelevantes Phänomen zu sehen?
Kultur ist eben ein komplexes Gesamtsystem, in dem Komponisten
und Aufführende zeitgenössischer Musik mit Verlaub vielleicht
auch die Aufgabe hätten, sich selbst verstärkt um den
Dialog mit der „interessierten Gesellschaft“ zu kümmern
(wie dies übrigens in der bildenden Kunst Tätige in
viel deutlicherer Weise tun). Statt dessen verjammert sich die
zeitgenössische Musik im professoral dotierten Elfenbeinturm
sentimentaler Wertebeschwörung.
Als Hochschullehrer im Fach Musikpädagogik möchte
ich feststellen, dass ich im Unterschied zu Herrn Trojahn sehr
wohl eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen kenne, die in Bezug
auf die Modularisierung von Studiengängen „andere als
organisatorische Gründe“ anführen.
Ohne die sehr wohl bestehenden Probleme und Fragwürdigkeiten
in Bezug auf die Bologna-Reformen im europäischen Hochschulwesen
zu leugnen, darf wohl auch behauptet werden, dass eine Modularisierung
von Studienangeboten im Kern nichts anderes bedeutet, als dass der
Flickenteppich der Beliebigkeit von Studienelementen zu einer sinnvoll
aufeinander bezogenen Struktur verwoben werden soll. An meiner Hochschule
halten viele dies für eine anspruchsvolle Aufgabe, die Hochschullehrer
dazu anhält, Verantwortung für Studien- und Berufsprofile
zu übernehmen. Akademische Freiheit ist eben nicht identisch
mit institutionellem Autismus.
Vielleicht wäre es gut, wenn engagierte und profilierte Künstler
wie Manfred Trojahn mehr dafür täten, den Dialog mit der
Gesellschaft real aufzunehmen, statt mit verquaster Geschichts-
und Sprachphilosophieklitterei Ressentiments zu kultivieren. Eine
Wertediskussion ist sicher wünschenswert und notwendig. Sie
muss aber mehr leisten als Vorurteilspflege und sentimentale Sublimierung
von Geschichte.
Prof. Dr. Heinz Geuen
Hochschule für Musik Köln
FB Musikpädagogik/ Musikwissenschaft