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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 1
55. Jahrgang | März
Leitartikel
Die Neue Musik erobert ein neues Publikum
Beobachtungen bei diesjährigen Festivals in Kiel, Berlin
und Stuttgart · Von Gerhard Rohde
In
der Schleswig-Holsteinischen Landeshauptstadt Kiel gibt es ein neues
Festival der Neuen Musik – unter dem Titel „Chiffren“.
In Stuttgart gibt es schon lange Tage der Neuen Musik, die sich
seit einigen Jahren den ebenso griffigen Titel „Eclat“
zugelegt haben. In Berlin gibt es zum Auftakt des Jahres das UltraSchall-Festival.
Wer diese drei Avantgarde-Veranstaltungen jetzt kurz nacheinander
besuchte, war immer wieder überrascht vom enormen Interesse
eines neugierigen Publikums, in dem sich die Zuhöreranteile
bemerkenswert ausgewogen auf ältere und jüngere Generation
verteilten. Über die Gründe für dieses im Gegensatz
zu früheren esoterischen Zeiten gewandelte Engagement für
die Musik der Gegenwart darf spekuliert werden. Nur positiv ist
zunächst festzustellen, dass es nun einmal so ist.
Stuttgarts Eclat-Festival begann mit einer Huldigung für
Clytus Gottwald. Dabei waren auch Weggefährten (v.li.):
Dieter Schnebel, Heinz Holliger und, rechts außen,
Pierre Boulez (siehe Seite 37).
Foto: Charlotte Oswald
In dieser Ausgabe der neuen musikzeitung beschäftigen sich
mehrere Artikel mit dem Thema Neue Musik. Über das UltraSchall-Festival
mit der Uraufführung von Pascal Dusapins „Faust“-Oper
wird auf den Seiten
39/40 berichtet, über das „Eclat“-Festival
auf den Seiten 37/38.Eine virtuelle ästhetische
Diskussion über Neue Musik, die Armin Köhler, Redakteur
für Neue Musik beim Südwestrundfunk, mit vielen Komponisten
führte, beschäftigt sich mit Grundsatzfragen des Komponierens
heute (Seite 3ff.).
Über die Kieler „Chiffren“ soll an dieser Stelle
etwas Eigenes gesagt werden. Es ist ja nicht so, dass Neue Musik
im Norden eine Terra inkognita wäre. An der Kieler Oper wurde
schon unter Joachim Klaiber und Hans Zender, später unter Peter
Dannenberg und Klauspeter Seibel engagiertes, nach vorn weisendes
Musiktheater geboten. Was in der letzten Vergangenheit fehlte, war
so etwas wie eine Zusammenfassung der im Lande vorhandenen, aber
verstreuten Potentiale. Also verbündeten sich das von Friedrich
Wedell geleitete „Forum für zeitgenössische Musik“
an der Kieler Universität, das vom Komponisten Gerald Eckert
geleitete ensemble reflexion K“ in Eckernförde, der Landesmusikrat
und die Lübecker Musikhochschule unter Dieter Mack zu einem
„Netzwerk“, zu dem noch, und das ist staunenswert, die
für die Kultur im Lande zuständige Staatskanzlei und die
Stadt Kiel stießen: nicht nur als passive Geldgeber, sondern
als aktive Mitgestalter des Programms in Person ihrer Musikreferentinnen
Cerstin Gerecht (Kiel) und Gabriele Nogalski (Staatskanzlei). Die
Kompetenz der beiden Referentinnen sollte Gewähr dafür
bieten, dass dieses inhaltliche Engagement der „Politik“
an den „Chiffren“ auch in Zukunft erhalten bleibt.
Schließlich bieten die „Chiffren“ nicht nur
die üblichen Konzerte mit Ur-und Erstaufführungen neuer
Werke, sondern sie haben sich zugleich die intensive Vermittlung
gegenwärtigen Komponierens, besonders an junge Menschen, als
Aufgabe gestellt. In dieser Hinsicht gab es jetzt schon beim ersten
Mal verheißungsvolle Ansätze, von informativen Einführungen
über praktische Unterweisungen junger Instrumentalisten durch
die erfahrenen Musiker des „ensemble reflexion K“ bis
hin zu einem eigenen Konzert junger Komponisten, die als Preisträger
aus entsprechenden Wettbe- werben hervorgingen. Diese Initiativen
„dienen“ nicht allein der Neuen Musik und deren besserem
Verstehen, sie ersetzen gleichsam auch ein wenig die großen
Defizite der schulischen Musikerziehung, für die sich eigentlich
die staatliche Bildungspolitik zuständig fühlen müßte.
Insofern leisten Stadt und Land mit ihrer Beteiligung am Kieler
„Chiffren“-Festival“ eine kleine Wiedergutmachung,
die auch in Zukunft nicht zur Disposition stehen sollte. Im Übrigen
öffnen sich für das Neue-Musik-Festival in Kiel viele
programmatische Perspektiven. In den skandinavischen Ländern
und den baltischen Staaten gibt es eine bemerkenswert vielfältig-farbige
und substanzreiche Avantgarde-Szene, für die man eine „Brückenfunktion“
ausüben könnte. In Deutschland und im westlichen Europa
weiß man viel zu wenig von den in den genannten Ländern
arbeitenden Komponisten. Umgekehrt wäre es auch hohe Zeit,
Schleswig-Holsteins Musikinteressierten verstärkt die Möglichkeit
zu bieten, sich über aktuelle Tendenzen in der internationalen
Neuen Musik und die dazu gehörenden Komponisten sozusagen „live“
zu informieren. Mit Beat Furrer, Bernhard Lang, Salvatore Sciarrino
und, etwas retrospektiv, John Cage war diesmal immerhin ein Anfang
gemacht. Und noch etwas: Die neuen „Chiffren“ müssen
in Anbetracht ihrer programmatischen Vielfalt unbedingt jährlich
stattfinden. Als Biennale, wie geplant, entstehen zu große
zeitliche Abstände, die einem kontinuierlichen Aufbau des Festivals
zuwiderlaufen würden. Über alles muss sorgfältig
diskutiert werden.
Auch über die finanzielle Ausstattung des Festivals, die
bisher eher bescheiden anmutet. Eine Veranstaltung der Neuen Musik,
und das gilt für alle Avantgarde-Festivals, ist in erster Linie
ein Laboratorium, in dem eine neue Klangästhetik, neue Ausdrucksformen
erforscht und in Realität umgesetzt werden. Mit anderen Worten:
Es braucht Komponisten, die für diese Experimente die entsprechenden
Werke schreiben. Ein Neue-Musik-Labor funktioniert nicht anders
als eines für Physik oder Chemie. Deshalb ist es auch so sinnwidrig,
wenn dem Mitveranstalter des Stuttgarter Eclat“-Festivals,
dem SWR, die Möglichkeit genommen wird, neue Auftragskompositionen
zu vergeben. Unter dem Vorwand notwendiger Sparmaßnahmen,
wird der Neuen Musik großer Schaden zugefügt. Da der
Intendant des SWR Peter Voß heißt, weiß man schnell,
warum das so ist. Die Verbissenheit, mit der der Intendant die Aktvitäten
der Neue-Musik-Redaktion zu beschränken versucht, ebenso die
Existenz des SWR-Vokalensembles, sollte den Aufsichtsgremien des
Senders einmal eine genauere Prüfung wert sein. Aber Peter
Voß steht wohl nicht allein. Der Norddeutsche Rundfunk hielt
es nicht für nötig, über die Kieler „Chiffren“
zu berichten. Eine Ankündigung, das wars. Was sitzen in der
Musikredaktion dieses Senders nur für Leute?