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nmz 2006/11 | Seite 6-7
55. Jahrgang | November
Magazin
Ein Streichquartett sagt mehr als ein großes Orchester
Einige notwendige Anmerkungen zu den Donaueschinger Musiktagen
2006 · Von Reinhard Schulz
Eines ist klar: Man fährt nicht zu den Donaueschinger Musiktagen,
um sich zu amüsieren (und klar ist auch, dass man nirgendwo
hinfährt, um sich schlecht zu amüsieren). Donaueschingen
hat anderes zu bieten, abseits von der Eventkultur und anderen Flachheiten.
Man will herausgefordert werden, vielleicht sogar provoziert, man
will aufgerüttelt werden, irritiert in seinen eigenen Wahrnehmungsformen,
denen sich neue Türen öffnen, man will in Konfrontation
geraten zu neuen Ansätzen des Hörens, des Gestaltens von
Klang. Kurz: In Donaueschingen erwartet man, dass einem, im positiven
Verständnis des Wortes, etwas zugemutet wird. Zumutung in diesem
Sinne heißt, ernst genommen zu werden, auf hohem Niveau angesprochen,
manchmal sogar angegangen zu werden. Noch kürzer: Man erwartet
Reibung.
Alvin
Curran (Mitte) dirigiert die Bläserarmee in seinem
Freiluftstück „Oh Brass on the Grass Alas“.
Foto: Charlotte Oswald
Dieser Vorlauf war nötig, denn die Donaueschinger Musiktage
2006 boten leider eine Fülle von Stücken mit erschreckendem
Niveau: Stücke, die weder den Begriff der Moderne ernst nehmen
noch mit Ausblicken dagegen antreten, Stücke, die nur im Sande
verlaufen. Es gibt im Wesentlichen zwei Kategorien dafür: die
belanglosen Stücke und die ästhetisch-technisch dürftigen.
Immer wieder wurde man mit diesen Kategorien konfrontiert und so
musste man betrübt feststellen, dass es im Grunde nur ein in
sich stimmiges Konzert während des Festivals gab (abgesehen
von einem Vor-Ort-Ereignis mit Freiluftmusik Alvin Currans schon
vor dem eigentlichen Eröffnungskonzert, wo nicht eben ganz
neu, aber durchaus rund und ideenreich ein akustisches Raumkonzept
mit 300 Laien-Musikern verwirklicht wurde). Immerhin ist das Festival
repräsentatives Schaufenster der zeitgenössischen Musik.
Auf der Haben-Seite konnte man eigentlich nur das Konzert des neu
besetzten Arditti Quartets verbuchen – nicht unbedingt, weil
hier jedes Werk obersten Rang hatte, aber weil es facettenreich
gebaut war und jedes Stück mit klaren und eigenwilligen Konturen
aufwartete (übrigens: der Cellist Lucas Fels, hat sich bestens
integriert; er hat nicht den federnden Ton von Rohan de Saram, dafür
aber den energetisch aufgeladenen von Lucas Fels und das Quartett
bekommt durch ihn ein neues Profil). Dass es so viel Ärgerliches
gab, man könnte auch den Begriff „Empörendes“
benutzen, ist doppelt schade, denn der SWR hat in einem mutigen
Schritt zum ersten Mal alle Konzerte live übertragen. Und da
bekamen die Hörer leider immer wieder Banalitäten zu hören.
Ist das nun ein Symptom der Neuen Musik, wo zwischen „Anything
Goes“ und „Nichts geht mehr so richtig“ munter
ins Blaue komponiert wird, in den Himmel hinein, bloß um nicht
anzuecken, da die eigene Denkschwäche das Eck kaum aushält?
Wenn es so wäre, dann hätte Donaueschingen das kartographische
Bild einer real existierenden, freilich desolaten Landschaft gezeichnet.
Aber es ist nicht so! Es gibt heute in der jüngeren Generation
eine Vielzahl von radikalen und herausfordernden Ansätzen,
es gibt den Mut des schöpferischen Widerstands, manchmal nur
als Anschreien gegen das Dumpfe, es gibt Konzepte, Subjektivität
in einer globalisierungssüchtigen Welt neu zu orten. Das muss
nach Donaueschingen (es sei hier nicht behauptet, dass solche Ansätze
noch nie da waren), dann hätte es auch der nicht zu beneidende
Rundfunkmoderator leichter, der hier leider immer wieder gezwungen
war, Dünnheiten als gewichtig anzupreisen.
Schon das Eröffnungskonzert (SWR-SO unter Arturo Tamayo)
ließ davon ahnen. Nun gut: Adriana Hölszkys Stück
„Flugmanöver“, gewiss nicht eine ihrer stärksten
Arbeiten, zauberte instrumentale Virtuosität auf eine überdimensionale
Partitur, ohne freilich Dringlichkeit nachzuweisen, Nicolaus Richter
de Vroe schieb mit „Les cases conjugées“ ein
differenziertes Dialogstück zwischen Streichquartett und Orchester
mit interessanten Streichertechniken, das vielleicht nicht immer
wusste, wo es eigentlich hin soll, und Altmeister Brian Ferneyhough
wartete in „Plötzlichkeit“ mit einem Orchesterstück
aus hundert Fragmenten auf, die alle sinnenpsychologisch auf die
Empfindung des Plötzlichen (das keinen Zeitverlauf kennt) reagierten.
Dass unser Hören dann doch etwas anders reagiert, dass es Verläufe
zusammenbindet und sich gegen das Wahrnehmen von Plötzlichkeiten
wendet, damit musste das Stück rechnen, dessen Grundkonzept
nicht immer objektiv auszumachen war. All dies bot zumindest Reiz
zum Mitdenken. Das aber wurde im immerhin längsten Stück
dieses Abends mit dem Titel „No. 37b“ des Briten Richard
Ayres gnadenlos unterminiert. Es war ein schwerer Gang durch die
Leichtigkeiten und Seichtheiten des Daseins, mit luftig gesetzten
Gags, mit Zimt-sterndekoration, Verdünnungswitzen und glänzenden
Anstrichen, immer augenzwinkernd darauf bedacht, dass alles gar
nicht so ernst genommen werden will. Alles verpuffte wie Lachgas
und ließ schlechten Nachgeschmack zurück: Musik zum Weggrinsen,
deren Banalitäten in Donaueschingen nichts verloren haben und
allenfalls als Dekoration in einem Faschingskonzert einen Platz
finden könnten. Was soll das?
Die Enttäuschung setzte sich fort im Konzert des Schönberg
Ensemble Amsterdam unter Reinbert de Leeuw (von dem eigentlich immer
Anspruchsvolles zu erwarten wäre). Werke von Robin de Raaff
und Alberto Posadas erwiesen sich als locker formulierte Nichtigkeiten.
Ein vom russischen Futurismus angehauchtes Stück „Contra-Relief“
des Moskauers Dmitri Kourliandski ließ demgegenüber zumindest
aufhorchen, da es aus postsowjetischer Warte Kontakt zu einer Aufbruchssituation
suchte, die noch immer nicht ganz aufgearbeitet ist. Danach Kagel.
„Divertimento?“, eine Farce für Orchester, setzte
sich mit Rückblick auf die in den 60er-Jahren entzündete
Debatte über die Funktion des Dirigenten mit den Fragilitäten
eines kopflos gewordenen Ensembles auseinander. Kagel kann das,
manches aber wirkte wie ein blasseres Déjà-vu vormalig
schärfer gefasster Konfrontationen. Die theatralen Witze waren
munter gesetzt, hatten aber auch keine Scheu vor abgegriffenen Irritationen.
Kagel meinte dies als Ermahnung gegenüber schnell getroffener
Leichtfertigkeiten, und als solche konnte man das Stück in
Erinnerung behalten, obwohl das Untergewicht kritischer Schärfe
Nachhaltigkeit verhinderte.
Und dann begann das Konzert des ensemble recherche zusammen mit
dem Freiburger Barockorchester wieder mit einem Totalausfall! Chris
Newman legte mit „Piano concerto No. 2 – Part 2“
eine Arbeit vor, die sich jeglichem musikalischen Anspruch fast
störrisch verweigerte, ohne dass die Verweigerungshaltung auch
nur irgendwelche produktive Spitzen für sich verbuchen konnte.
Das war weder Musik im emphatischen Sinne noch Anti-Musik. Es waren
aneinander geklebte Floskeln der frühen Klassik (wobei dem
Akt des Klebens noch ein aufgeblähter theoretischer Überbau
mitgegeben wurde). Schwer zu sagen, ob es so etwas wie die Lust
an der Lustlosigkeit gibt, hier jedenfalls überschwemmte ein
dilettierendes Unterfangen auch solche Eventualitäten. Da war
Wolfgang Mitterer im gleichen Konzert (das ja das Thema von alter
und neuer Klanglichkeit vorgab) weit souveräner im Zusammenschneiden
und Übermalen von barocken, von von Telemann stammenden Passagen.
Trennschärfen wurden hörbar, wenngleich sich die Ebene
der Verfremdung allzu oft in schematischen Verbiegungen der Struktur
erging.
Und da wir nun mal bei den Flops sind, sei noch auf das Abschlusskonzert
(SWR-SO unter Hans Zender) verwiesen, wo nach einem solide raumakustisch
gemachten Stück von Jörg Widmann („Zweites Labyrinth“,
es erhielt denn auch den von den mitwirkenden Musikern verliehenen
Orchesterpreis) wiederum ein Werk erklang, das in seiner Hilflosigkeit
eigentlich nicht nach Donaueschingen gehören sollte. Es war
„De Danzbodnlock – Violinsinfonie“ von Manfred
Stahnke. Zugrunde lagen Volksmusikfragmente norddeutscher Couleur
und Stahnke hat sich ein Gerüst theoretischer Argumentationen
zurechtgelegt. Diese aber in Sinn und Sinnlichkeit umzusetzen, blieb
ihm versagt. Die arme Geigerin (Barbara Lüneburg) musste plänkelnd
und scheppernd ihr Instrument mit leeren Gesten in Gang setzen,
alles aber verlor sich im Einerlei des Verlaufs. Musik, die Ausblicke
gibt (und der Ansatz könnte so etwas durchaus ermöglichen),
bräuchte eine stärkere Hand, ein genauer hinhörendes
Ohr, eine konkretere Gestalt. All dies aber wurde verspielt.
Dieser Eindruck trübte leider auch die starken Arbeiten.
Die Komponisten mussten sich teilweise wie verloren vorkommen. Hier
ist zunächst und an vorderer Stelle Martin Smolkas „Semplice“
für alte und neue Instrumente zu nennen, das mit viel Gespür
und feinem Gehör die Differenzen in Stimmung und Gestik zwischen
vorklassischer und zeitgenössischer Musik auslotete. Mit 45
Minuten verlangte es viel an Konzentration, zumal sich das Stück
auf ganz wenige Elemente wie Terz und Dreiklang, Wiederholung und
Echo oder die Patina des Klingens beschränkte. Aber die Fülle
des intensiv Vernommenen (hier hatte man auch einmal das Gefühl,
dass nur einmaliges Hören nicht genügt) hielt das Ohr
immer emphatisch lauschend bei der Stange. Smolka kümmert sich
überdies überhaupt nicht um etwaige zeitgemäße
Strömungen, fragt nicht, was gerade „in“ ist, sondern
verfolgt fast stoisch abgeklärt seinen Weg, der auch nicht
den Anspruch erhebt, zum Modell für andere zu werden. Auf diesem
Weg aber sammelt er Klänge, die nicht einem Effekt dienen,
sondern nach Innen streben und durch ihre Leuchtkraft und Genauigkeit
aufwühlen.
Georg-Friedrich
Haas. Foto: Charlotte Oswald
Noch ein Werk, wenngleich mit deutlich mehr Event-Charakter, erzielte
Nachhaltigkeit: das Konzert für Licht und Orchester „Hyperion“
von Georg Friedrich Haas in Zusammenarbeit mit der Lichtdesignerin
Rosalie. Die Baar-Sporthalle war an ihren Wänden mit gut 3.000
Plastikeimern ummantelt, die in verschiedenen Farben aufleuchteten,
Muster zauberten, verschiedene Formen von spektralen Helligkeiten
erzeugten. Das Publikum war darin eingeschlossen, stand oder ging,
einer Brown’schen Molekularbewegung ähnelnd, und wurde
von spektralen Klängen, die Haas so souverän handhabt,
umhüllt: ein ganzheitliches, fast der Zeit enthobenes Erleben,
ein Bad im Klingen. Die Musiker (ohne Dirigent) organisierten sich
über das Licht und über Schlagwerkstrukturen in den einzelnen
Gruppen. Dadurch entstand ein freies, gleichwohl kontrolliertes
Fließen der klanglichen Strukturen, die auch den Wohlklang
obertöniger Aufrisse nicht vermieden. Haas hat hier Konzepte,
die er zum Beispiel schon in Stücken wie „in vain“
andachte, konsequent ausgearbeitet.
Wohl eher am Rande nahm man diesmal die Klanginstallationen von
Hans Peter Kuhn (und einen Film von Kirsten Reese, der in schleifender
Reflexion die Konzerthallen in ihrem Alltagsleben übers Jahr
betrachtete) wahr. Atmosphärisch gelungen war am ehesten der
Raum „Schöne Ordnung“ mit Lichtstäben und
rotierenden Klängen. Auch der Jazz blieb mit Georg Graewe und
Earl Howard niveauvoll solide, ehe Steamboat Switzerland mit sperrigen
Rhythmen und gewaltiger Phon-Energie den Deckel draufsetzte.
Aber dann war da, wie schon erwähnt, noch glücklicherweise
das Arditti Quartet mit einem insgesamt stimmig und zugleich auch
herausfordernd gestalteten Programm. Es waren Arbeiten des Jordaniers
Saed Haddad, des Norwegers Ole-Henrik Moe, des Mexikaners Julio
Estrada und von Wolfgang Rihm – und alle gingen ganz eigene
Wege. Saed Haddad schrieb in „Joie voilée“ einen
differenziert kontrastierenden Gang menschlicher Fährnisse
in 14 Schritten (Fröhlichkeit, Bescheidenheit, Tod etc.), der
vielleicht in seinen Ausdrucksmitteln noch zu sehr auf widerstrebende
Gesten beschränkt war, der aber dringlich von einem starken
emotionalen Mitteilungsbedürfnis des Komponisten kündete.
Moe ließ in „Lenger“ (in diesem Stück für
Streichquartett und Solovioline spielte er den Solopart) den aggressiven,
penetrierend angerissenen Geigenton auf ebenso gespannte wie spannende
Weise durch extreme, verschiedene Sensorien berührende Geräuschkomplexe
des Quartetts wandern und Julio Estrada überraschte in „Quotidianus“
durch einen extremen, röchelnden, pfeifenden und singenden
Einsatz der eigenen Stimme, die im Quartett eine Fülle von
entlegenen Aktionen, gleichsam als Schatten der Stimme, evozierte.
Rihm schließlich legte in „Akt und Tag“ zwei
gewohnt souveräne Studien für Stimme und Streichquartett
vor, die von fast quälenden Lauten und Echolauten im Quartett
schließlich emphatisch in ein Gedicht von Blake mündeten.
Gewiss nicht der stärkste Rihm, aber in diesem Konzert hatte
man, was man bei den Donaueschinger Musiktagen 2006 über weite
Strecken vermisste: einen Ausblick auf neue Möglichkeiten,
auf neue Ausdrucksbereiche der Musik. Die partiellen Zufriedenheiten,
die so erweckte und von Smolka oder Haas prolongierte Lust und Freude
des Hörens konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es ein Jahrgang mit vielen, ja allzu vielen Ausfällen
war. Von diesem Vorwurf ist kein Verantwortlicher freizusprechen.