[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/12 | Seite 29
55. Jahrgang | Dez./Jan.
Verbandspolitik
„Wir sind eine Bastion der Nicht-Beschleunigung“
Der Vizepräsident der European String Teacher Association,
Ulf Klausenitzer, im Gespräch
Im Anschluss an die Jahrestagung der ESTA in Bad Brückenau
(siehe Seite 15) führte
Susanne Fließ ein Gespräch mit Ulf Klausenitzer, seit
2000 Vizepräsident der ESTA, über die Arbeit und die Funktion
des inzwischen 40 Jahre alten Verbands.
Ulf
Klausenitzer. Foto: ESTA
neue musikzeitung: Was war der Anlass für
die Gründung der European String Teacher Association? Ulf Klausenitzer: In der Tat ist die ESTA eine
Gründung der 60er-Jahre. Aus der Erkenntnis heraus, dass die
Gruppe der Streicher zwar in musik-historischer Hinsicht riesig
ist, gesellschaftlich aber verschwindend gering.
Ich selbst bin dort Mitglied geworden, weil die ESTA ein singulärer
Platz ist, wo Fortbildung und Austausch unter Streichern stattfindet,
von einzelnen anderen Veranstaltungen mal abgesehen. Es ist ein
Phänomen, dass die Ausbildung auf einem Streichinstrument extrem
kompliziert ist und es in dieser Zeit viel Austausch untereinander
gibt, aber dann, wenn die Musiker eine Stelle im Orchester gefunden
haben, passiert in dieser Hinsicht fast gar nichts mehr.
nmz: Wie sahen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
zum Zeitpunkt der Gründung aus? Klausenitzer: Die großen Protagonisten der
Streicher und Pädagogikhelden im 20. Jahrhundert Max Rostal,
Siegfried Palm, Igor Ozim und Yehudi Menuhin, haben die Gründung
der ESTA sicherlich provoziert. Bis dahin definierte man sich vor
allem über die-
se Lehrer. Die folgende Generation dann, die auch meine ist, wollte
selbst aktiv sein und etwas bewegen. Die Streicher sind sich inzwischen
klar darüber geworden, dass sie in der Gesellschaft politisch
nicht vertreten sind, obwohl sie das Hauptsegment der musikalischen
Interpretation und historischen Traditionspflege der letzten 300
Jahre sind. Wir freuen uns sehr, dass man beginnt, auf die ESTA
aufmerksam zu werden, ein erster Schritt dazu ist dieses Interview.
Es ist mehr als überfällig, die Streichersektion in einer
Gesellschaft der beständig beschleunigten Innovation zu positionieren.
Wir sind eine der letzten Bastionen der gesellschaftlichen Nicht-Beschleunigung.
nmz: Welche politischen Ziele hat sich die ESTA
gesetzt? Klausenitzer: Die ESTA ist offen für alle
Streicher. Jeder ist herzlich willkommen. Eines unserer aktuellen
Vorhaben ist eine Informationsreise durch die deutschen Hochschulen,
um junge Musiker zu werben und zu gewinnen. Gemeinsam erstellen
wir im Internet Dateien für geeignete Studienwerke und Literaturvorschläge
und diskutieren über neue Technologien im Zusammenhang mit
Streichinstrumenten. Die ESTA soll eine Interessenvertretung sein,
nicht in gewerkschaftlicher Hinsicht, sondern als Diskussionsforum
für alle Streicher und auch als Gegengewicht gegen die vergleichsweise
gut organisierten Bläser. Denn die Streicher vertreten eine
ungeheure Breite in der europäischen Musiktradition und der
Grad der Organisiertheit steht dazu in krassem Gegensatz.
Es gibt Gegenden, in denen es eine Mutprobe darstellt, wenn sich
ein Junge mit einem Geigenkasten in der Öffentlichkeit zeigt.
Geige zu spielen ist ein Ausgrenzungsmerkmal und hat keineswegs
mehr eine Vorbildfunktion. Insofern halte ich „Jugend musiziert“
für ein weitgehend von der Gesellschaft abgetrenntes Phänomen.
Deswegen ist es wichtig, dass die ESTA sich bemerkbar macht, indem
sie für die Weitergabe des Schönsten und Wertvollsten
der Gesellschaft einsteht.
nmz: Kämpfen andere Instrumentengruppen nicht
mit ähnlichen Problemen? Klausenitzer: Das glaube ich nicht. Blasmusik halte
ich für ein verbreitetes ländlich-soziologisches Phänomen,
abgesehen davon gelingt es auch schneller, mit einem Blasinstrument
zu musizieren. Die unreflektierte Gleichsetzung von U- und E-Musik
hat zur Folge, dass alles gleichermaßen unterhalten soll.
Der anstrengenden Rezeptionsarbeit einer Oper mag sich heute kaum
noch jemand unterziehen.
nmz: Das klingt, als schlössen sich Unterhaltung
und Hochkultur aus. Klausenitzer: Aber nein! Ich plane zum Beispiel
ein Konzert mit „Apocalyptica“, stehe mit Dave Brubeck
und Jacques Loussier auf der Bühne. Wir 68er Bilderstürmer
haben damals sicherlich den Fehler gemacht, die Kultur der Väter
pauschal beiseite zu räumen. Aber heute habe ich eher die Position,
die uns mitgegebenen kulturellen Werte zu bewahren. Nachdem die
Fraktion, die früher „keine Experimente“ wagte,
sich heute dem Innovationsfetisch verschrieben hat und alles wegbläst,
was mal war. Heute muss ich Mozarts g-Moll-Sinfonie retten gegen
Kommerzdenken und Privatfernsehen.
nmz: Sie sind Mitbegründer und Intendant
des Bayerischen Kammerorchesters… Klausenitzer: Die Orchestergründung ist meine
persönliche Antwort auf die bundesdeutsche Orchesterlandschaft,
die sich ja beinahe ausschließlich aus Orchestern zusammensetzt,
die Gebilde des 19. Jahrhunderts sind. Wenn ein Komponist ein Stück
für zwei Bleistifte, Singstimme und zwei Bratschen schreibt,
dann muss ein Orchester das realisieren können. Stattdessen
wird vielfach nach Besetzungsplänen und zeitorientiert gespielt,
anstatt kunst- und wertorientiert zu arbeiten.
nmz: Halten Sie denn die Streicherausbildung
an den deutschen Hochschulen aufgrund des vielseitigen Anforderungsprofils
für tauglich? Klausenitzer: Hier wäre eine Pauschalisierung
gefährlich. Wir in Nürnberg an der Hochschule unterrichten
zum Beispiel „team teaching“. Das heißt, dass
sich hier eine Woche lang fünf Dozenten um einen Studenten
kümmern und sich untereinander und mit ihm austauschen. Regelmäßig
finden außerdem Probespielsimulationen statt. Die Behauptung,
an deutschen Musikhochschulen würden nur Solisten ausgebildet,
stimmt so pauschal nicht mehr, nicht nur Nürnberg beschreitet
endlich neue Wege.
Es ist eben ein schwerwiegender Widerspruch, den die Ausbildung
an der Musikhochschule mit sich bringt: einerseits soll sich der
junge Mensch entfalten, improvisieren können, seine Kreativität
pflegen, andererseits soll sich ein Musiker auch irgendwann zur
Mehrheitsfähigkeit entwickeln, damit er auf dem Arbeitsmarkt
vermittelbar ist.
nmz: Die ESTA stellt sich auf ihren Kongressen
offenbar jedes Jahr von neuem die Frage, wie die als schwer verrufene
Streichinstrumente bei Kindern vermittelt werden können? Ist
die Antwort jetzt gefunden? Klausenitzer: Eine endgültige Antwort wird
es da wohl nie geben. Was uns in der ESTA eint, ist der Wille, einer
fatalen gesellschaftlichen Entwicklung entgegenzusteuern. Wir arbeiten
daran, Wege zu den Kindern zu finden, nachdem der Zugriff der Medienkonzerne
in die ästhetische Gehirndimension der Kinder ja ungeheuer
raffiniert und effizient gelingt. Die Arbeit der ESTA ist ein notwendiger
Versuch, um auf der abschüssigen Straße der Kultur nicht
ganz so schnell weiter abzurutschen. Was die Arbeit zusammen mit
anderen Verbänden betrifft, so ist die Vernetzung noch nicht
wirklich optimal. Ich halte die Orchesterpartnerschaften für
außerordentlich gut, die Einrichtung des Förderpreises
„Inventio“ des Deutschen Musikrates ebenso wie die Konzepte
in der Kulturpolitischen Gesellschaft.
nmz: Dennoch liegen die Fragestellungen der ESTA
eher im streicherimmanenten Bereich. Klausenitzer: Da haben Sie vollkommen Recht. Aber
wir wollen uns über die Fingersatz-, Strich- und Klang-Diskussion
hinaus bemerkbar machen. Denn jeder Ton, der auf eine Bühne
erklingt, ist politisch erkämpft. Wenn man übt und kommt
nicht mehr auf das Podium, weil die Politik dies verhindert, dann
hat man umsonst geübt und dann braucht man auch die Fingersatz-Diskussion
nicht mehr. Ich verweise auf die Auseinandersetzung um Sendeplätze
für anspruchsvolle Musik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Davon abgesehen ist der Beruf des Musikers sehr anstrengend. Es
ist also die Frage, wie viel Kapazität neben der künstlerischen
Hochleistung bleibt. Man kann nicht von allen Musikern politisches
Engagement verlangen. Als wir damals an die Hochschule gingen, dachten
wir, wenn wir üben, wird uns die Gesellschaft schon entdecken
und fördern. Aber die Notwendigkeit der Kulturförderung
ist in den Köpfen von Politikern immer weniger vorhanden, also
muss man sich bemerkbar machen. Die Orchester, die Musiker, die
Aufnahmeprüfungen werden immer besser, während die Rezeptionsfähigkeit
der Zuhörer immer mehr abfällt. Trotzdem wird geklagt,
dass die Streicher noch immer nicht gut genug sind, ich aber frage
mich: für wen sind sie denn nicht gut genug? Die Öffentlichkeit
ist nicht im Besitz ästhetischer und interpretatorischer Kriterien,
es geht kaum noch um Qualität und Bildungsauftrag, der Kommerz
dominiert sämtliche gesellschaftliche Bereiche. Davon sind
ja andere Kunstbereiche ebenso betroffen.
Die Idee der Sozialdemokratie der 70er-Jahre, dieses „Musik
für alle“, wie Hilmar Hoffmann das formulierte, hat eher
dazu geführt, dass der Konsum von Musik erschwinglich wurde,
anstatt die Menschen so auszubilden, dass sie in der Lage waren,
komplexe musikalische Strukturen zu begreifen. Die ESTA sieht eine
ihrer wesentlichen Aufgaben darin, die Antennen der Kinder für
diese Kulturleistungen wieder aufzustellen und dazu wünschte
ich mir einen dauerhaften und fruchtbaren Dialog mit der Politik.