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2007/04 | Seite 5
56. Jahrgang | April
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Schweinesystem
Seit einem Vierteljahrhundert wird in der Neuen Musik und überhaupt
im Kunstbereich der Verlust der Kriterien beklagt: Jeder Schmarren
kann sich heute als Kunstwerk deklarieren und sich mit diesem behaupteten
Sonderstatus in den öffentlichen Diskurs einklinken, dem er
mit ein paar provokanten Stichworten seine eigenen Regeln aufzudrängen
versucht. Was meist funktioniert, denn in unserer postmodernen
Medien-Demokratie findet auch der größte Mist seinen
Fuhrmann, der ihn auf die Bühne der Öffentlichkeit karrt.
So lange sich das nur im Kulturbereich abspielt, kann man getrost
darüber hinwegsehen, denn das Herumgerede gehört hier
zum Geschäft und schadet weiter nicht. Schlimmer ist es, wenn
es sich auf ethische Werte bezieht, die nicht je nach Bedarf beliebig
uminterpretierbar sind. Geschehen ist das aber gerade mit der Diskussion
um die Begnadigung eines bekannten Serienmörders, der seine
Verbrechen einst politisch begründete und glaubte, sich damit über
moralische und juristische Normen hinwegsetzen zu können.
Es geht hier nicht um diesen offensichtlich Unbelehrbaren, der
nach Absitzen seiner Strafe wohl für den Rest seiner Tage
im eigenen Hass schmoren wird, sondern um die öffentliche
Kampagne, die im Hinblick auf seine bevorstehende Freilassung geführt
wird. Ein Jahr vor seiner regulären Entlassung sollte der
Mörder auf eigenes Verlangen begnadigt werden.
Aber warum eigentlich? Es gibt keinen Anlass. Weder bereut er
noch bittet er die Angehörigen der Opfer um Verzeihung noch bekennt
er, wem er ganz persönlich in den Kopf geschossen hat. Er
verschanzt sich lieber hinter der feigen Gruppenanonymität.
Trotz dieser Sachlage wird öffentlich laut über Gnade,
Versöhnung und Schlussstrich-Ziehen dahergeredet. Übertroffen
wird dieser Schmarren noch durch die Klage über eine angebliche
Rachejustiz. Als ob das Recht auf Begnadigung einem Automatismus
gehorchte und wie eine volle Bonuskarte an der Supermarktkasse
eingelöst werden könnte. So hätten sie es gern gehabt,
die mutigen Freiheitkämpfer von einst und ihre heutigen
Versteher, die als hartgesottene Atheisten sich nicht entblöden,
die christliche Nächstenliebe zu bemühen: Der verhasste
Staat als Vollversorger, der ihnen auch noch die Entlastung ihres
Gewissens abnimmt, indem er sie mit einer amtlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung
ausstattet.
Der Skandal ist nicht das Gemaule des uneinsichtigen Mörders,
sondern die Penetranz, mit der ein Bündnis sich moralisch
gerierender Linker, das bis ins liberale Lager hineinreicht, seine
Art von Recht einklagt. Er beginnt damit, dass der einstige Rektor
der Humboldt-Universität, der Theologe Heinrich Fink, sich
zum Sprachrohr des Killers machte und seine Grußbotschaft
an die Rosa-Luxemburg-Konferenz verlas. Fink galt seinerzeit als
Opfer einer wessi-gesteuerten Intrige und musste 1992 als Rektor
zurücktreten. Nachträglich muss man für seine Entfernung
dankbar sein – als amtierender Rektor hätte er mit seiner
Aktion den Ruf der Universität ruiniert. Aber was ist schon
zu erwarten von einem Theologieprofessor, der, wie man heute weiß,
als IM „Heiner“ die eigenen Studenten an die Stasi
verriet.
Der Skandal endet dort, wo ein Oskar Lafontaine sich an die Deklaration
des Knastbruders anhängt und ihm bescheinigt, recht zu haben
mit seiner Kapitalismusdiagnose. Wie weit heruntergekommen sind
eine Partei und ihre Spitzenvertreter, die es nötig haben,
sich die Argumente von Mördern auszuleihen?
Welches Wählerpotenzial haben sie dabei im Blickfeld? Und
was treibt den als RAF-Unterstützer rechtskräftig verurteilten
grünen Abgeordneten Hans-Christian Ströbele dazu, in
den Chor einzustimmen? Bereits ist im Blog der TAZ wieder vom „Schweinesystem“ die
Rede.
Angesichts des Schindluders, der in diesen Kreisen mit dem Begriff
der Gnade getrieben wird, ist ein Blick in Mozarts „Entführung“ hilfreich.
Gnade, in der Opera seria noch von einem Gott oder Fürsten
gewährt, wird hier in einem revolutionären Akt zurückgewiesen.
Konstanze wirft dem Bassa Selim lieber ihr Leben vor die Füße,
als dass sie sich auf einen Gnadendeal mit ihm einließe.
Doch ihr Einsatz ist nicht von Hass, sondern von einem Ethos der
Liebe getragen, weshalb sie den Herrscher letztlich überzeugt.
Die Szene markiert, wie Ivan Nagel in seinem luziden Mozart-Essay
festellte, den Übergang vom absolutistischen Untertan zum
autonomen Subjekt.
Der Gnadenerweis, bei Mozart zu einem Akt des aufgeklärten
Humanismus transformiert, beruht heute auf demokratischem Konsens
und dieser wiederum auf einem moralischen Gefühl von Richtig
und Falsch. Daran scheint es heute weitherum zu mangeln, nicht
nur bei denen, die aus politischen Gründen von Gnade daherreden.
Niemand verlangt von einem verurteilten Mörder die Größe
der Selbstpreisgabe.
Aber verlangen darf man, dass er einen Anflug von Humanität
zeigt. So lange das nicht der Fall ist, ist die Forderung nach
Gnade nichts als Demagogie, um einmal mehr das „Schweinesystem“ vorzuführen.
Der Schoß ist fruchtbar noch.