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nmz-archiv
nmz 2007/04 | Seite 12
56. Jahrgang | April
Nachschlag
Kunst oder Leben
Wer in dieser Ausgabe der nmz einige Seiten nach vorne blättert,
der wird in der Beckmesser-Kolumne auf folgende Sätze stoßen: „Jeder
Schmarren kann sich heute als Kunstwerk deklarieren und sich mit
diesem behaupteten Sonderstatus in den öffentlichen Diskurs
einklinken… Solange sich das nur im Kulturbereich abspielt,
kann man getrost darüber hinwegsehen, denn das Herumgerede
gehört hier zum Geschäft und schadet weiter nicht.“ Das
mit dem „Schmarren“ mag schon stimmen, dennoch gibt
es einiges zu entgegnen. Zum einen ist das Phänomen nicht
neu, schon immer konnte jemand, der sich als Künstler empfand,
mit einem Machwerk nach Außen treten und durfte sogar auf
breiteren Diskurs hoffen, wenn der Sensationswert hoch genug angesetzt
war. Es muss also nicht über die schlechte Gegenwart gejammert
werden, auch wenn deren Kanäle in die Öffentlichkeit
vielleicht noch willfähriger dem Öden und Seichten geöffnet
werden.
Der Künstler, der in aufrichtigem Bemühen ein Erleben,
eine Wahrnehmung oder was auch immer (eine Botschaft?) den anderen
mitteilen möchte, leidet unter dieser desolaten Vermittlungssituation
ebenso. Und er kann im Grunde nur hoffen, dass er mit seiner Arbeit
auf offene Sinne stößt, die sich noch nicht korrumpieren
ließen. Nicht aber sollte denen unfreiwillige Argumentationshilfe
geliefert werden, die unter Beifall dumpfer Massen alles neue künstlerische
Tun als „Schmarren“ abtun.
Das eben ist Aufgabe der Kunstkritik: zu helfen, dass das Wahrnehmen
geschärft wird, dass Schönes im Ungewohnten entdeckt
wird, dass Tiefen in noch nicht beschrittenen Regionen ausgemacht
werden. Solche Befähigungen wissen dann auch den „Schmarren“ zu
identifizieren, der sich freilich in immer neuen Verkleidungen
in den Kunstbereich drängen wird. Das ist nicht schlimm, solange
das kritische Rüstzeug intakt ist, ja es mag sogar zur Qualität
einer offenen ästhetischen Landschaft gehören. Was wäre übrigens
die Alternative? Die Vorsortierung durch Kunstwächter? Das
Verbot? Solches wäre fatal, fataler jedenfalls als unsere Überschwemmung
mit Unkultur, in dessen Strömen wir wie Goldsucher nach Qualität
und Bestand fahnden.
Auch der zweite Satz ist zu hinterfragen. Ist Kultur wirklich
ein Bereich, der sich im Herumgerede genügt und dadurch sonst
keinen gesellschaftlichen Schaden anrichtet (im Gegensatz zu den
Regionen von Ethik oder Moral)? Wäre es so, dann wäre
es an der Zeit, hinter dem Kapitel Kultur in der Menschheitsgeschichte
die Seiten zu schließen. Dann aber kann man auch gleich das
Kapitel Mensch abschließen. Denn immer noch verstehen wir
den Menschen als geistig-sinnliche Ganzheit. Eine Gesellschaft,
die in der Kultur alle Maßstäbe fallen lässt, wird
auch in anderen Bereichen keine Orientierung finden. Es kann wohl
keinen Sinn fürs Ethische geben, wenn die Sinne für das
Schöne und Tiefe vollständig ausradiert sind. Das Herumgerede
mag vielleicht zum Kunstgeschäft gehören, aber das ist
nicht das Geschäft der Kunst (also das, wofür sie geschaffen
wurde). Hier nämlich geht es um das Vorantreiben, das Ausweiten
menschlicher Erfahrung, um das innigere Begreifen des Sinns, um
das Hineinleuchten in das letztlich unergründliche Geheimnis
des Seins. Hier nach Kriterien der Verwertung zu fragen, darf man
ruhig den Managern überlassen. Sollen sie sich bereichern
an den von ihnen feilgebotenen Kunstprodukten, reich werden im
tieferen Sinne werden die, die sich der Kunst in immer neuer Neugier
und Offenheit stellen. Aus dieser Warte wird man die Werte Schönheit,
Moral oder Wahrheit nicht mehr auseinander dividieren können.
Und auch nicht Kunst und Leben.