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nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 1
56. Jahrgang | Mai
Leitartikel
Bastian-Falle und Bologna-Ernüchterung
Zwei Studien zur musikalischen Bildung in der Diskussion · Von
Andreas Kolb
Unser Fotograf mag sich ähnlich fasziniert gefühlt haben
wie der Studiosus in Alain René Lesages Roman „Der
hinkende Teufel“. Von der Dachkonstruktion der Halle 3.1.
herab sah er mitten ins Innere der Verlagsstände hinein, wie
man in das „Innere einer Pastete hinein sieht, von der die
Decke abgenommen worden ist“. Sicher eine außergewöhnliche
Perspektive – zu einem wirklichen Blick hinter die Kulissen
des Musikgeschäfts fehlen aber noch einige Informationen.
Obwohl sie nicht den Lärmpegel anderer Hallen erreicht, ist
die Halle 3.1. das Herzstück der Musikmesse – hier wird
nicht mit Instrumenten oder Equipment gehandelt, sondern mit der
Musik selbst. Die wichtigsten deutschen und internationalen Verlage
stellen hier ihre Neuheiten aus. Die Erfolgsmeldungen der Messe „mehr
Aussteller und mehr Besucher als je zuvor“ konnten aber nicht
verdecken, dass die klassischen Verlage einen Strukturwandel im
Musikleben verspüren.
Selten
sieht man so leicht ins Innere des deutschen Musiklebens
wie auf unserem Bild. Mehr zur Musikmesse Frankfurt 2007
im Magazin auf den Seiten 4 bis 6.
Foto: Johannes Radsack.
Die „ruhige“ Halle 3.1. ist umgeben von einem wahrhaft
kakofonischen Getöse: Schlagzeuge und elektronische Instrumente
vieler Art sind der eigentliche Umsatzbringer der Messe. Sie kündigen
eine neue Epoche in der Musik an. So wie der Entwicklungsgang bestimmter
Kulturen sich anhand überlieferter Keramiken und Scherben
rekonstruieren lässt, so lässt sich an der Entwicklungsgeschichte
der Instrumente eine Geschichte der musikalischen Sprache schreiben.
Violine, Klavier und Oboe sind ausgereift. Sie beengen oft genug
die Komponisten Neuer Musik in ihrem Erfindertum, und sie spielen
im großen Bereich der Unterhaltungskunst oder der Filmmusik
nur noch eine Nebenrolle. An dieser offensichtlichen Wechselbeziehung
zwischen Instrument und musikalischer Erfindung kann man ablesen,
in welchem Umbruch unsere Musikkultur sich heute befindet.
Dieser hat Konsequenzen nicht nur für den Musikmarkt, sondern
auch im Bildungsbereich. Im Wettkampf um Kunden, Marktanteile,
Fördermittel und vor allem um den musikalischen Nachwuchs,
der Jahr für Jahr stärker an andere Freizeitbeschäftigungen
verloren geht, hat man in den vergangenen Jahren häufig Ergebnisse
wissenschaftlicher Studien zur Legitimation und Argumentation herangezogen:
Musik verbessert das Sozialverhalten, Musik erhöht den Intelligenzquotienten
und hat bessere Schulleistungen zur Folge, um nur die wichtigsten
zu nennen.
Eine neue Expertise des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung mit dem Titel „Wie schlau macht Mozart wirklich“ kam
wenige Tage nach der Messe heraus und fasst den heutigen Forschungsstand
zusammen: Der Konsum von Musik macht nicht schlauer – bestenfalls
hebt sich durch den Genuss von Musik die Stimmung und damit auch
die Leistungsbereitschaft. Aktives Musizieren kann die Intelligenz
messbar steigern, wenn auch nur leicht (mehr
dazu auf Seite 10).
Musik erweist sich also nicht als schneller Königsweg zur
Verbesserung kognitiver Fähigkeiten. Nicht nur die Aktion
des Dachverbands Musikwirtschaft und Veranstaltungstechnik „Intelligent
mit Musik“ ist in die Bastian-Falle geraten. Auch die wenigen
verbleibenden Musiklehrer an Schulen können ab sofort mit
dem Thema Musik und Intelligenz, oder Musik und Transferleistungen
nur noch bedingt in bildungspolitischen Diskussionen oder im innerschulischen
Wettbewerb bei ihren Kollegen von den Versetzungsfächern punkten.
Eine weitere Studie gilt es vorzustellen: Das Institut für
musikpädagogische Forschung der Hochschule für Musik
und Theater Hannover stellte sich die Aufgabe, gültige Informationen über
die Frage nach der Studienmotivation von Studierenden der Musikerziehung
zu erhalten. Die von der Stiftung „100 Jahre Yamaha e.V.“ unterstützte
Studie sollte dabei Material für eine „eventuelle Neuvermessung“ der
Studiengänge Musikerziehung liefern (siehe
unser Interview mit den Initiatoren Hans Bäßler und Asmus Hintz auf
Seite 11).
Die Ergebnisse sind ernüchternd: So wertig die künstlerische
Ausbildung an Musikhochschulen im internationalen Vergleich auch
ausfällt, die pädagogischen Fächer gelten unter
den Studenten nach wie vor als zweitrangig. Für das Gros der
Musikstudenten steht die pädagogische Ausrichtung bei ihrer
Studienwahl nicht im Vordergrund, auch wenn sie sich für Instrumental-
oder Gesangspädagogik eingeschrieben haben. So ergab die Hannoveraner
Studie, dass es kaum Interesse für Praktika im musikpädagogischen
Bereich an Schulen gibt. Die Hochschulausbildung ist mit ihrem
Grundkonzept Künstlerreife, Musikerziehung und Schulmusik
immer weniger auf einen veränderten Arbeitsmarkt ausgerichtet.
Hochschulen haben nicht nur die Aufgabe, für einen Markt auszubilden.
Sie haben auch einen gesellschaftlichen Auftrag: Forschung und
künstlerische Ausrichtung. Dennoch müssen sie sich die
Frage gefallen lassen, ob sie im pädagogischen Bereich nicht
an der Realität vorbei ausbilden. Das ist vor allem im Hinblick
auf das neue Hochschulfreiheitsgesetz, durch das Universitäten
und Fachhochschulen mehr Autonomie erhalten, und die Bologna-Umsetzung
an den Musikhochschulen von Bedeutung. Die einzelnen Institute
suchen nach neuen Profilen und die Folge davon ist, dass einige
Musikhochschulen sogar darüber nachdenken, keinen eigenen
pädagogischen Bachelor-Studiengang einzurichten. Vor dem Hintergrund,
dass von Jahr zu Jahr immer mehr Orchestermusiker und Sänger
für einen immer kleiner werdenden Markt ausgebildet werden
und dass Musikpädagogen und Musikvermittler in vielen Bereichen
Mangelware sind, ist das bedenklich.
Vor welchen unerwarteten Problemen die Musikhochschulen bei der
Umsetzung der Bolognareform stehen, schildert anschaulich ein Interview
mit Martin Pfeffer, Vorsitzender der Hochschulrektorenkonferenz,
in dem dieser Ausgabe beiliegenden Hochschulmagazin. Anfangs mit
Begeisterung begrüßt, macht sich Ernüchterung darüber
breit, was die Vorteile einer Modularisierung von Studieninhalten
sein könnten. Inzwischen hinkt man bei der Bologna-Umsetzung
deutlich den Universitäten hinterher. Kunst und Musik lassen
sich nicht so einfach modularisieren und standardisieren wie wissenschaftliche
Fächer. Ein Cellist hat eben keine 40-Stundenwoche, wenn er
sein Repertoire während sechs Semester Studium zufriedenstellend erarbeiten
will. Das Meister-Schüler-Lehrprinzip hat weniger mit Wissensvermittlung
als mit einem Reifungsprozess zu tun.
Natürlich gibt es bundesweit auch Reformansätze: viele
Hochschulen stellen sich dem Wettbewerb untereinander, gründen
neue Studiengänge oder exportieren ihr Know how direkt in
die Bedarfsländer, wie etwa die Musikhochschule „Franz
Liszt“ in Weimar, die vor wenigen Tagen ein Verbindungsbüro
in Peking eröffnet hat: deutscher Spitzen-Musikexport als
ein noch einmaliges und dem Anschein nach erfolgreiches Konzept
einer Kunsthochschulprofilierung.
Aus den Konservatorien des 19. Jahrhunderts entstanden, sind die
Musikhochschulen also durchaus bereit, nicht länger nur Musiktradition
zu konservieren, sondern – bei Weimar im wahrsten Wortsinn – ins
Neuland aufzubrechen. Musikhochschulen sind Laboratorien geworden,
auch wenn vereinzelt Komponisten sich einsam fühlen, unter
den vielen fleißigen Artisten, deren höchstes Ziel es
ist, die Kunst der vergangenen Jahrhunderte zu reproduzieren.
Von der Ausstrahlung der Musikhochschulen in die bundesdeutsche
Bildungslandschaft wird es maßgeblich abhängen, welche
Gewichtung Musikunterricht in Zukunft in unserer Gesellschaft bekommt.
Auch wenn die kognitiven Effekte einer musikalischen Ausbildung
erwiesenermaßen gering sind, so ist Musik als Lebensmittel
nach wie vor unbestritten. Musik machen kann Selbstwertgefühl
vermitteln, es kann Gruppen synchronisieren, es wirkt immens in
die sozialen und emotionalen Bereiche des Menschen. Musik ist bei
allen Wandlungen, die sie erlebt, für viele Menschen nötig
wie die Luft zum Atmen. Wie Luft, Wasser oder Energie gehört
auch das Musische zur Daseinsfürsorge. Man muss sich über
die Wege dahin streiten (die nmz bietet weiterhin das Forum dazu),
nicht aber über die unbestrittene Aufgabe der Gesellschaft,
dem Wollen und Können junger Instrumentalisten und Sänger
auch die Möglichkeit zum Tun anzubieten.