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2008/04 | Seite 11
57. Jahrgang | April
Praxis: Konzertvermittlung
Von der Überzeugungskraft des Selbermachens
Der Rundfunkchor Berlin beschreitet neue Wege, Kindern und Jugendlichen
Chormusik nahezubringen
Der Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie ist bis auf den
letzten Sitz gefüllt. Immerhin 1.200 Menschen finden hier
Platz. Fast die Hälfte davon singen: Schülerinnen und
Schüler aus elf Berliner Gymnasien und Oberschulen sind mit
ihren Schulchören zur Liederbörse des Rundfunkchores
Berlin gekommen. Die jüngsten Mitsänger sind 10, die Ältesten
17 oder 18 Jahre alt. Als Simon Halsey auf dem Podium erscheint,
bricht Jubel los. Seit 11 Uhr probt man bereits zusammen. Man hat
sich kennengelernt und ist zu Freunden geworden. Mit angelsächsischem
Humor, mimischer Begabung, anfeuernden Rufen und Tipps, die man
sofort umsetzen kann, hat der charismatische Brite die wildfremden
Jugendlichen schon nach den ersten Einsingübungen vollkommen
in der Hand.
Probenarbeit
zur Liederbörse im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie.
Foto: Matthias Heyde
Halsey, der im März seinen 50. Geburtstag feierte, weiß,
wovon er spricht. Selbst Sohn eines berühmten Londoner Chorleiters
und Komponisten, sang er seit seinem 9. Lebensjahr in den berühmten
Universitäts-Chören seiner Heimat: zunächst am New
College, Oxford, dann am King’s College, Cambridge. Seit
seinem 25. Lebensjahr schuf und leitete er für Simon Rattle
die verschiedenen Chor-Formationen in Birmingham. Zur Verdeutlichung
lässt er in den Proben Erzählungen aus seinem eigenen
Sängerleben einfließen. Das schafft Vertrauen. Nicht
nur bei den Jugendlichen, die wirklich das Gefühl bekommen: „Er
ist wie wir“, und Schwellenängste ablegen. Um 18 Uhr
beginnt das Konzert mit Hugo Wolf und Friedrich Silcher. Der Rundfunkchor
geht mit dem schweren Feuerreiter voran, die anderen Chöre
folgen in wechselnden Kombinationen mit unterschiedlichstem Repertoire.
60 Minuten später ist das Wir-Gefühl auch auf das Publikum übergesprungen.
Singen ist eine soziale Kunst.
Halsey glaubt an die Überzeugungskraft des Selbermachens. „Erziehungsarbeit“,
meint er, „wird zunehmend wichtiger, weil eine Generation
heranwächst, die immer mehr von Technik und immer weniger
von Musik versteht.“ Da Kirchen und Schulen als Vermittler
Ernster Musik in den Hintergrund träten, müssten Chöre
und Orchester eben auf die Leute zugehen. Halsey und der Rundfunkchor
verfolgen eine Doppelstrategie: „Es gibt zwei Arten, neue
Freunde zu gewinnen. Die eine ist, dass wir Amateure und Kinder
einladen, mit uns zu singen. Dann können sie sagen: ‚Rundfunkchor?
Kenn’ ich. Ich hab’ sogar mit ihm gesungen.‘ Dann
werden sie auch in unsere Konzerte kommen. Die andere ist, dass
wir kleine Gruppen von Sängern zu den Leuten und in die Schulen
schicken, mit ihnen arbeiten lassen und sie dann zu unseren Konzerten
einladen.“
Methode A hat zur Gründung der mittlerweile legendären
Mitsingkonzerte des Rundfunkchores im Februar 2003 geführt.
Jedes Jahr kommen 1.500 Menschen aus ganz Europa und sogar aus
den USA nach Berlin, um unter Simon Halsey einen Tag lang Werke
wie die Requiem-Vertonungen von Mozart, Brahms, Fauré oder
Verdi in der Philharmonie zu proben und öffentlich aufzuführen.
In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat sich dagegen eine
Mischung aus Methode A und B bewährt. Ende 2003 studierte
Halsey auf Einladung Simon Rattles mit 300 Berliner Schulkindern
das Engelsfinale aus Berlioz’ „Damnation de Faust“ ein.
In drei regulären Abonnementskonzerten der Berliner Philharmoniker
unter Charles Dutoit öffneten sich am Ende plötzlich
die Türen: Eine Flut weißgekleideter Kinder strömte
in die Philharmonie und stimmte in den Gesang des Rundfunkchores
ein: „Das sind 300 Kinder, die vorher nie die Chance hatten,
mit klassischer Musik in Berührung zu kommen und die jetzt
sagen werden: ‚Philharmonie? Kenn’ ich. Da hab ich
auch schon gesungen.‘“
Für speziell auf Schüler zugeschnittene Mitsingkonzerte
wie die anfangs beschriebene Liederbörse gehen Mitglieder
des Rundfunkchores hingegen vier Monate vor dem Konzert in die
Schulen und arbeiten sowohl mit den Lehrern und Musiklehrern als
auch mit den Schülern an Stimmtechnik, Artikulation, Interpretation,
Repertoire-Auswahl, Ensemble-Singen und anderen spezifischen Fragen,
sodass die Kinder und Jugendlichen einerseits Einblick in Berufsleben
und Persönlichkeit professioneller Chorsänger gewinnen,
sich andererseits aber auch sicher und wohl im Konzert fühlen.
Simon Halsey ist ein ausgesprochener und begnadeter Vertreter
des Do-it-yourself-Prinzips der Musikvermittlung. Das liegt auch
an
der englischen Chor-Tradition. Mitsingkonzerte seien zwar nicht
gerade gang und gäbe im Vereinigten Königreich. Da man
aber im Gegensatz zum immer noch wohlsubventionierten Deutschland
kaum Berufschöre kenne, seien auch die berühmtesten englischen
Chöre nolens volens immer schon bestenfalls halbprofessionelle
Amateur-Chorgemeinschaften gewesen. Insofern habe hier bis vor
kurzem noch das verdeckte Mitsingprinzip gegolten. Moderierte Familien-Konzerte
hingegen lehnt Halsey nicht gerade ab. Man spürt aber seine
Skepsis diesem Veranstaltungsformat gegenüber: „Natürlich
ist es wichtig, Programme zu machen, die attraktiv für Familien
sind. Aber was ist für sie attraktiv? Jeder hat doch andere
Präferenzen. Es hat keinen Sinn, dass wir Stücke singen,
die die Leute aus der Werbung kennen. Aber es hat auch keinen Sinn,
dass wir anspruchsvolle Stücke singen und die Leute gehen
raus und sagen: Nie wieder Klassik. Das ist ein echtes Problem.“
Der Rundfunkchor hat nun gemeinsam mit der amerikanischen Musikpä-dagogin
Monique Mead ein Schülerkonzert-Format für Kinder entwickelt,
die in ihren Schulen keine Gelegenheit haben zu singen, etwa weil
Grundschullehrer keine hinreichende musikalische Ausbildung mehr
besitzen. Hier werden, drei Monate vor dem Konzert, die Lehrer
in Workshops zum Komponieren von kleinen Kanons angeleitet. Sie
erhalten pädagogische und praktische Tipps, wie sie ihre Klassen
zum Musizieren, Komponieren und aktiven Verstehen von gehörter
Musik anregen können. Etwa zwei Monate später schwärmen
die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchores in die
Schulen aus und lassen sich die Ergebnisse der Klassen vorführen,
geben Ratschläge, stellen die Stücke des bevorstehenden
Schülerkonzerts vor und knüpfen persönliche Kontakte
mit den Schülerinnen und Schülern. Der gemeinsame Besuch
eines moderierten Schülerkonzerts ist dann die dritte Stufe
dieser auf Nachhaltigkeit angelegten Aktion, in der nicht nur musikalische
Interessen und Fähigkeiten geweckt und gefördert, sondern
die Kinder auch mit dem Konzertritual (still sitzen, zuhören,
sich auf die Musik konzentrieren) vertraut gemacht werden. Das
Gefühl, dass die Vertrauensperson im Rundfunkchor auf der
Bühne die Klasse im Parkett gut im Blick hat, wirkt da insbesondere
bei den Kleinen Wunder. Und oft hält der persönliche
Kontakt zwischen den Sängerinnen und Sängern und ihren ‚Patenklassen‘ noch über
das Abschlusskonzert hinaus.
Die Reaktionen der Lehrer auf die Schülerkonzerte vom Januar
2008 bestätigen aber die Einschätzung, dass ein reines
Konzertformat, das nicht in überwiegenden Teilen auf das aktive
Mitsingen der Schülerinnen und Schüler und auf die Erläuterung
der Stücke in den Klassen ausgerichtet ist, problematisch
bleibt, weil Erwartungshaltungen, Interesse und Kenntnisse unterschiedlich
sind. „Warum wurde der Gospel mit so wenig Freude gesungen?,
wurde in einer Zuschrift gefragt: Kinder hatten durch den Sänger
andere Erfahrungen beim Vorstellen des Programms in der Schule!
Er hat die Kinder mitgerissen. Im Konzert kam davon nichts rüber!“ Durchgehend
positiv wurde hingegen der persönliche Kontakt zwischen Schülern
und Sängern bewertet. „Die Workshops waren sehr nützlich“,
heißt es da: „Der Gesang an sich gewann an Leben, weil
er mit einer Person verknüpft wurde. Das Wiedertreffen des
Sängers im Chor war für die Schüler ein zusätzlicher
positiver Effekt, der die Distanz zur Bühnenaktion aufhob.
Die Schüler fühlen sich vielmehr eingebunden.“
Symphonieorchester und Klassik-Festivals in Deutschland haben
ihre Education-Programme bereits stark ausgebaut. Nicht zuletzt
deswegen,
weil staatliche und private Drittmittel ohne entsprechende Begleitprogramme
schon lange nicht mehr zu bekommen sind. Chöre sind hier eher
in der Minderheit, da der Chorgesang für Kinder ja in Knaben-
und Kinderchören traditionell institutionalisiert ist. Die
Frage bleibt aber: Wie bringt man Kindern ohne musischen Familien-Hintergrund
und den entsprechenden Möglichkeiten, mit klassischer Musik
in einem positiven Umfeld in Berührung zu kommen, Chormusik
nahe? Singen ist immerhin die einzige Kunst, die man ganz ohne
Anfangsinvestitionen betreiben kann: demokratisch und gemeinschaftsbildend.
Das sollte wieder in Erinnerung gerufen werden.