Hier ein kleiner Erlebnisbericht, wie es tatsächlich war
mit Biermanns Liedern im Leipzig dieser Jahre.
Vor 30 Jahren gehörte ich, ein junger Leipziger Gitarrist,
zu seinen Jüngern. Das war die Zeit der Singeclubs, der Texterbuden
und Liedermacher. Eine gar nicht so dumpfrote Zeit wie man heute
glaubt, eher offen, eher liberal, zumindest in der Kunst. Im VEB
Buntgarnwerk wird das anders gewesen sein. Dort rabottete ja nur
die herrschende Klasse. Unser Gott hieß nicht Alfred Hennecke,
sondern Manfred Krug, doch einige hatten auch immer Lieder von
Biermann dabei oder Tonbänder, die auf Jupiter- oder Tesla-Geräten
spätabends abgespielt wurden. Das heimliche Gebet und Stoßgebet
der Oma Moise „Lieber Gott, lass doch den Kommunismus siegen“ oder
unsere Lieblingshymne „So oder so, die Erde wird rot“ kursierte.
Beide Lieder hörte ich wieder am 19. November 2006 in der
langen Biermann-Nacht, das „Gebet der Oma Moise“ in
einer Übertragung aus Hamburg, gesungen in einer so schmerzhaft
intensiven und zugleich liebevoll humorigen Art, dass es mich überläuft
und ich mich zum zigtausendsten Male frage, warum eigentlich hat
denn der Kommunismus nicht gesiegt, wenn er denn solche Propheten
hatte?
Die Antwort gibt Biermann selber, denn das Fernsehen wiederholte
das legendäre Konzert bei der IG Metall in Essen 1976, dem
vorgeschobenen Grund der Ausbürgerung. In dem Lied „So
oder so, die Erde wird rot“ besteht der Refrain aus drei
sich steigernden Verszeilen: „so soll es sein, so muss es
sein, so wird es sein“. Und diese Zeilen haben von Biermann
eine Musik bekommen, die genau das Gegenteil des Textes aussagt.
Nach einer kräftigen Dominante wird leuchtendes C-Dur erreicht,
die zweite Zeile wiederholt das Ganze in tieferem Moll, die dritte
Zeile wird von einer nahezu kraftlosen harmonischen Wendung aus
einer alten Kirchentonart begleitet. Dazu fällt die Gesangstimme
um eine Oktave. Das hat die dialektische Dimension von Brecht/Eisler
und es war mir vorher nie aufgefallen und stimmte mich traurig.
1974 wurden wir jungen Leute aus den Leipziger Singeclubs von
der Bezirksleitung der FDJ gefragt, wie wir denn dächten, wie
sie mit diesem Biermann umzugehen hätten. Unsere Flötistin,
die nebenher in einem Verlag arbeitete, schlug vor, alles in kleiner
Auflage zu drucken, dann wäre der Dichter zufrieden, die Künstlerkollegen
würden das kaufen und die Arbeiter täte so was sowieso
nicht interessieren. Wir anderen waren der Meinung, Biermann ins
westliche Ausland auf Tournee zu schicken, denn einen besseren
Botschafter fürs Ländle konnten wir uns nicht vorstellen.
Wir wurden seltsam angesehen und heimgeschickt.
Zwei Jahre später kam es zur Ausbürgerung. Wir wurden
wieder einbestellt, was wir denn nun zum „Vorgang“ meinten. „Vorher
kannte ihn keiner, jetzt kennt ihn jeder“ sagte die Flötistin,
die mittlerweile zwei Kinder hatte und das Wort Mutterschutz geschickt
für sich in Anspruch nahm. Ihr geschah nichts. Der zweite
Gitarrist Tommy, Arbeiterkind, knallrot, Offiziersanwärter,
sagte: „Das ist Euer Ende“. Er sagte nicht mehr „unser“,
sondern „euer“, spielte also offenkundig nicht mehr
mit. Eine Woche später war er arbeitslos, obwohl man in der
DDR nicht arbeitslos sein konnte. Die Sängerin brachte ihn
in der Sternburgbrauerei Schkeuditz als Bierkutscher unter. Drei
Jahre später erhängte er sich. „Heute sagt jeder
Dummkopf, was das doch damals für Dummköpfe gewesen seien“,
kommentiert Biermann und meint die Staaten, die laut Böll „sehr
oft Dummheiten machen“.
Meine Lippen blieben damals geschlossen. Für mich war das
ein Spiel: Katze-Maus-David-Goliath-König-Hofnarr. Antizyklisch
hatte eben mal der Hofnarr gewonnen, ich fand es eher lustig. Drei
Tage später erschien die Sängerin bei meiner Mutter (ich
wohnte noch zu Hause) und bewog meine Mutter dazu, ihr die liebevoll
abgeschriebenen Biermann-Lieder zu borgen. Ich bekam sie natürlich
nie wieder. In der Akte las ich später, dass sie im Auftrag
gehandelt hatte. Genau genommen hat sie mir geholfen: Das Beweismaterial
war weg.
Ich konnte studieren.
„Dann bin ich nach Osten“, sagt Biermann im Interview „und
habe mich gewundert, wie viele mir entgegenkamen“. Und er
zitiert seinen Vater, der zu ihm gesagt hat: „Ich habe mein
Leben aufs Spiel gesetzt, da kannst Du doch Dein Wohlleben aufs
Spiel setzen. Lass dich nicht einschüchtern, kleiner Wolf“.
Da kroch die Scham dann doch meinen Rücken hoch. Die Musik
spielt überall. Und ich war kein Held.
Walter Thomas Heyn
Alle Biermann-Zitate stammen aus Fernsehsendungen des NDR vom
19. November 2006