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1998
47. Jahrgang
Ausgabe 4
April

© nmz und
autoren 1998

  nmz - neue musikzeitung

Kulturpolitik
Musikwirtschaft
Medien

Seite 10

Autor:
Claus-Henning
Bachmann

 

Tagebuch

Unklare Regie

Welche Art von Oper wollen wir? Diese, halten zu Gnaden, doch wohl nicht. Reicht es, „die Anweisungen des Komponisten“ szenisch zu befolgen? Doch wohl nicht. Jonathan Miller hielt sich gerade darauf einiges zugute, als er an der Staatsoper Unter den Linden Verdis „Falstaff“ nichtssagend ablaufen ließ. Die unfreiwillige Parodie dieser ernsthaftesten aller Komödien war in Bildern von verhuschtem Kitsch als Absicht ausgegeben. Leistet solche Regie etwas für die Musik? Doch wohl nicht. Claudio Abbado dirigiert dramaturgisch und wird von der szenischen Dramaturgie versetzt wie ein verschmähter Liebhaber. Er dirigiert auch das Ensemble wie Instrumente, doch das schwebende Parlando auf dem Fundament strukturierter Klangfarben tönt ins Leere. Nicht so das Heldenepos über den ehemaligen Staatsopernchef Heinz Tietjen in der Hauszeitschrift „vivace“ (vgl. Tagebuch in nmz 3/98). Im zweiten Teil ist das Spotlight verschärft. Auch diese Schaumgeburt eines „Widerstandskämpfers“ können wir nicht wollen. Was hat den jüdischen Hausherrn Daniel Barenboim dazu gebracht, diese Ehrenerklärung zuzulassen – für einen Vorgänger, der mit Glück und Geschick der Täterschaft entkam? Es wagnert in Berlin.

 

Ohne Beiwerk

Ein melodisches Band, scheinbar ziellos, blüht aus der Tastatur, die Melodie festigt sich, wird immer beredter – und dann ist es, als wendete sie sich nach innen, als verdämmere sie in ihrem Selbst. Der Pianist Jascha Nemtsov nennt diese vierte der 1930 komponierten sieben „Statuettes“ von Joseph Achron „eine orientalische Liebesbeschwörung voll Wonne und Anmut“. Ich würde eher von einem Stück Musikalischer Prosa sprechen, im Sinne der berühmten Schönberg-Definition als „einer direkten und unumwundenen Darstellung von Gedanken ohne jegliches Flickwerk, ohne bloßes Beiwerk und leere Wiederholungen“. In der Tat war Achron, aus einem polnisch-litauischen Dorf stammend und Wunderkind auf der Violine schon vor Beginn seines Petersburger Studiums, in seiner letzten, wohl um 1930 beginnenden Schaffensperiode von Schönbergs Musik beeinflußt – worauf Nemtsov, der exzellente Pianist, auch hinweist. Peter Gradenwitz hörte von Achron, der 1943 in Los Angeles 57jährig starb, „Meisterwerke neuer Musik mit unverkennbaren Charakteristika jüdischer Prägung“. Aber Gradenwitz und zuvor Max Brod haben, was Europa angeht, für ihn und andere vergeblich geworben.
Das kann jetzt anders werden, nicht nur für Joseph Achron. Er gehörte vor seiner Emigration in die USA 1925 mit Lazare Saminsky, Michail Gnessin, Alexander Krein, Moshe Milner, Alexander Weprik und Joel Engel zu dem Komponistenkreis um die St. Petersburger „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“, 1908 gegründet. Was heißt in diesem Zusammenhang „Volksmusik“? Darüber gab es schon bald Kontroversen, etwa zwischen Engel, einem Moskauer Musikkritiker und Komponisten, und dem Rimsky-Korsakow-Schüler Saminsky. Max Brod weist auf ein 1940 in Jerusalem erschienenes Buch von Moshe Gorali hin: „Die jüdische Musikschule“. Und die jüdischen Wurzeln in dem größten Ghetto der Welt, in Rußland, sind auch der Ansatz eines Forschungsprojekts „Die Neue Jüdische Schule in Rußland (1908–1928)“, das die Stuttgarter Musikwissenschaftlerin Beate Schröder-Nauenburg und Jascha Nemtsov gemeinsam bearbeiten, verbunden mit CD-Einspielungen. Ein Bezugspunkt sind beispielsweise die Kantillationen, die Singweisen in den Synagogen: So trifft Musikalische Prosa in neuer Lesart auf neue Ohren.

 

Dorfmusik

Die Ziege Dizza frißt einen Seidenstrumpf und stirbt daran. Sie wird ein Stern am Firmament. Leah aus Rußland zitiert Lenin. Zwei italienische Kriegsgefangene singen eine neapolitanische Kanzone. Die hübsche halbwüchsige Dassi spielt Schubert und zieht sich zum Baden aus. Der Knabe Jossi „erkundet“ sie mit dem Fernglas. Die Deutschen stehen 1942 bei El-Alamein, die entscheidende Schlacht ist noch nicht geschlagen. Sie wird von den Briten gewonnen, sechs Jahre später ist der Staat Israel gegründet, aber bald darauf sterben die jüdischen Helden. Der Anti-Held Jossi, „alterslos“, wird Totengräber und erzählt „Dorf“, Joshua Sobols verklärten Blick auf sein palästinensisches Heimatdorf. Gespielt wird „K’far“ („Dorf“) von dem georgisch inspirierten russisch-jüdischen Immigranten-Theater „Gesher“ („Brücke“) aus Tel Aviv auf einem kreisförmigen Steg, der sich pausenlos dreht. Ein Mikrokosmos in Körpersprache; die Wortsprache des Stückes – hebräisch – mußten fast alle Spieler in den vergangenen sieben Jahren erst erlernen. Yevgeny Arye, der künstlerische Leiter und Regisseur, spricht sie heute noch nicht.
Arabisch, Deutsch, Italienisch, Englisch, Russisch tönen hinein wie Schubert und Kanzonen und gottweißwelche Musik. Ein Paradies wird geträumt, überdreht aus Melancholie. „Armes Theater“, das sich in seiner Opulenz als ein reiches gibt; das sich als Volkstheater verkleidet, um von einem Paradies zu erzählen, das es so nie gegeben hat. „Zions Sehnsucht“, die von einem Berliner Freundeskreis zur Realitäts-Erkundung im fünfzig Jahre jungen Staat Israel ausgerichtete Programmfolge, gab neben dem Träumer Sobol auch dem Polemiker das Wort: mit einer szenischen Lesung seines jüngsten Stückes „Honig“, uraufgeführt 1997 in Haifa, wie „Dorf“ einfühlend übersetzt von Ruth Melcer. Eine „Kirschgarten“-Paraphrase vor dem Hintergrund des Verfalls der Kibbuz-Bewegung, weitergeführt zu einer ökologisch begründeten Kapitalismus-Kritik. Die Gegenwart war erreicht, hier und jetzt, bei uns. Dazu wieder Schubert, und Mahler. Musik ist bei Sobol falsch gedacht: zur Rettung von Vergangenheit.

 

Diplomatische Mission

„Nur eines will ich noch: das Ende“, singt Wotan in Wagners „Die Walküre“ zu Brünnhilde. Gespenstische Daten, die ein Ende markieren: Der 23.8.1939 – „Hitler-Stalin-Pakt“ zur Sicherung des deutschen Angriffs auf Polen, Ziel: die Vernichtung Polens; der 28.9.1939 und 11.2.1940 – Nachfolgeverträge; an den Paktdaten von 1939 Geheime Zusatzverträge über die Aufteilung und Annexion souveräner Staaten; 21.11.1940 – Premiere der „Walküre“ am Moskauer Bolschoi-Theater, im Auftrag Stalins inszeniert von Sergej Eisenstein, ein symbolischer Akt der Annäherung an Hitler; 22.6.1941 – vorgeplanter Vertragsbruch mit dem Überfall auf die Sowjetunion zu Lande und aus der Luft.
Dem Ungeheuerlichen korrespondierte kunstpolitisch Unglaubliches: Der weltberühmte Regisseur deutsch-jüdischer Herkunft (Deutsch war seine „Vatersprache“), in seinen berühmtesten Filmen („Panzerkreuzer Potemkin“, 1925 und „Alexander Newski“, 1938) revolutionär und patriotisch inspiriert, aber als „formalistisch“-experimentell auch beargwöhnt, trat Bayreuth entgegen mit einem radikal-modernen formalen Experiment. Er wollte „Wagner nicht denunzieren“ (Regienotizen), nichts an dem Stück sei faschistisch.
Zur visuellen Partitur gehörten filmische Muster aufgreifende pantomimische Chöre. Ambivalenz deckte die Lüge des Paktes auf: Einem wachen Beobachter klang das „Hojotoho“ der Walküren wie Heil-Hitler-Gejohle. Details sind nachzulesen in dem Band „Eisenstein und Deutschland“, herausgegeben von der Berliner Akademie der Künste im Henschel Verlag (vor allem in einem ausgezeichnet recherchierten Beitrag von Boris Schafgans). Eine Fundgrube.

Claus-Henning Bachmann

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