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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 7
49. Jahrgang | November
Internet
Wenn ich mir was wünschen dürfte...
Um die Diseusen, Chansonetten und Charmeure im Netz ist es noch
schlecht bestellt
Bar jeder Vernunft, Wilde Bühne, Kleine Freiheit eigentlich
könnte man meinen, dass die Glamourstars, die in solchen Etablissements
ihr Brot verdienen und für die die gekonnte Selbstvermarktung
zum täglichen Geschäft gehört, das Internet als farbenfrohe
Weltbühne mit Freuden nutzen, doch auf den ersten Blick wird
der Pilger im Netz enttäuscht. Gäbe es nicht eifrige und
fleißige Fans, die sich viel Mühe machen, Bilder ausstellen
und Sammelobjekte und Artikel zusammentragen, würde es noch
finsterer aussehen.
Alle aussagekräftigen Domains sind entweder von seltsamen
Firmen besetzt oder gähnend leer: www.chanson.de
ist zum Beispiel die offizielle Seite des Müller-Lüdenscheidt
Verlages in Bremen, die gar nicht schlecht ist, aber sie hat das
vergessene deutsche Volkslied zum Inhalt und nicht das gesuchte
Gut. Noch düsterer sieht es unter der Adresse www.lied.de
aus, die Linkliste führt etwa zu so dollen Domains wie www.rosenmontag.de
oder zu Rhein in Flammen. Immer noch keine Spur von
Glanz und Flitter...
Die Domain www.kabarett.de
ist registriert, wird aber nicht genutzt, www.chanson.com
gibt es nicht, www.kabarett.com
hat sich eine Künstleragentur geschnappt, die unter anderem
Hanns Dieter Hüsch vermittelt, über eine Gay-Site findet
sich schließlich www.kabarett-chanson.de:
aah, endlich eine sehenswerte Startseite, allerdings wieder einmal
von zwei Privatpersonen, die zirka fünf bis sieben Links zu
eher unbekannten singenden Künstlerinnen präsentieren,
ansonsten gibt es noch ein Gästebuch, und das wars dann
auch schon wieder.
Zurück in die 20er Jahre
Schön und gut, wenden wir uns der Vergangenheit zu, gehen
wir zurück in die glorreichen 20er-Jahre, als das Musikkabarett
in Berlin und anderswo die singenden Asphalt-Diseusen nur so zum
Blühen brachte. Ohne ihn wäre die ganze Szene nicht vorstellbar:
Friedrich Hollaender, der große Kleine des Cabarets, Spötter
und Tastenpoet, jedes Kind kennt heute noch den Song für Marlene
Dietrich in Sternbergs Film Der Blaue Engel: Ich
bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Leider kann
er sich selbst nicht mehr auf einer Homepage präsentieren,
keine Plattenfirma und auch nicht sein Notenverlag (BMG Ufa) tun
es, nur ein treuer Fan: Thomas Schwiers, ein Wirtschaftsingenieur
aus Hamburg hat sich die Mühe gemacht, auf Deutsch eine kurze,
aber informative Biografie zu verfassen mit Querverweisen zu wichtigen
anderen Persönlichkeiten, die in diesem Kontext von Bedeutung
sind: Marlene Dietrich, Blandine Ebinger, Werner Richard Heymann
und so weiter. Ganz bemerkenswert ist seine Auflistung von CDs,
Büchern und Noten. [1]
Ihr Name ist schon gefallen, Marlene Dietrich der wohl größte
internationale Star, der vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland
gezeugt wurde, aber erst in den USA die ganz große Film- und
später im mittleren Alter seine Chanson-Karriere gestartet
hat. Die Deutsche Stiftung Kinemathek, die seit Anfang der 90er-Jahre
auch die Marlene-Dietrich-Collection beherbergt hat eine vorbildliche
Site geschaffen, die (fast) keine Wünsche offen lässt:
unter www.marlene.com gibt es Neuigkeiten aus aller Welt, die die
Dietrich betreffen, eine Auflistung all ihrer wichtigen Filme und
Bilder, die Biografie ist leider etwas trocken und dürftig
ausgefallen. Dafür geben sich ihre Fans viel Mühe [2],
ganz hervorragend und mit wunderbarem Fotomaterial ausgestattet
ist folgende Site eines Verehrers und Sammlers: http://home.snafu.de/fright.night/marlene-dietrich-page-de.html.
Um andere große Komponisten und Diseusen, die vor Hitlers
Machtübernahme ihre großen Erfolge feierten, ist es im
Web schlecht bestellt. Bei Interesse sollte man auf alle Fälle
die Homepage der Plattenfirma Duophon besuchen, die in der Reihe
Berliner Musenkinder Größen wie Zarah Leander,
Mischa Spoliansky, Ralph Benatzky, Peter Kreuder oder die Comedien
Harmonists auf CDs verewigt. Leider gibt es nicht einmal kurze biografische
Abrisse der Künstler auf der Homepage. Genauso sieht es auf
der Seite von Bear Family Records, Herausgeberin der hervorragenden
8-CD-Box über Friedrich Hollaender und der definitiven Lotte-Lenya-Box,
auch die Linkliste ist nicht gerade ausführlich.
Mehr zu sehen gibt es bei der Plattenfirma Viellieb Rekords, die
Stars wie Georgette Dee, Cora Frost, Die Popette Betancor oder Helen
Vita auf CD unters Volk bringt, die Seiten sind liebevoll
gestaltet, Biografisches fehlt jedoch auch wieder, obwohl sich die
Homepage als offizielle Site von Georgette Dee, der legitimen Dietrich-Nachfolgerin,
und ihres Pianist Terry Tucker bezeichnet. Mehr Informationen halten
wieder einmal die Fansites bereit [3]. Das
wars auch leider schon, Pionierarbeit täte dringend not.
Das gleiche gilt für Meret Becker, singende Sirene und Schauspielerin
aus Berlin, die im Moment mit ihrem Nachtmahr-Programm
auf Tour ist. Die Domain www.meretbecker.de
ist zwar vergeben, aber ohne Inhalt, so muss man sich wieder mit
gut gemeinten Fanseiten begnügen. [4]
Genauso traurig seht es mit dem Weltstar Ute Lemper im Netz aus.
[5]
Und schon sind wir in der Gegenwart gelandet, wo es doch endlich
Erfreuliches zu berichten gibt. Tim Fischer, Kultfigur aus Berlin,
der sich vor allem mit den Interpretationen von Hollaenders Liedern
eines armen Mädchens hervorgetan hat, präsentiert
sich auf einer gut gestalteten und informativen Homepage (www.timfischer.de)
mit ausführlicher Biografie, Diskografie und News. Ebenfalls
sehenswert sind www.lilli-walzer.de,
www.cora-frost.de
und www.reinhard-mey.de,
die Homepage des zuckersüßen Swingers Götz Alsmann
enthält nichts als die aktuellen Tourdaten, und Irmgard Knef
nicht zu verwechseln mit Hildegard ist leider zurzeit
nicht im Netz erreichbar. Wer übrigens auf der Suche nach Liedertexten
ist, sollte sie einfach in voller Länge mit Anführungszeichen
versehen in eine gute Suchmaschine eingeben, die Ergebnisse können
sich sehen lassen.
So viele mussten wegfallen: die 50er-Jahre mit Evelyn Künecke,
Helen Vita oder Günter Neumann mit seinen Insulanern, Kurt
Weill und seine Muse Lotte Lenya, die Diseuse ohne Stimme
Hildegard Knef, Georg Kreisler und die anderen Austro-Stars, die
Franzosen und, und, und, es wird eine Fortsetzung
geben, keine Bange...