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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 52
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Das aktuelle Musikbuch
& neue Noten
Hat eine Nazifizierung gar nicht stattgefunden?
Bemerkungen aus Anlass einer Buch-Rezension
Die NS-Politik, so konnten wir jüngst an dieser Stelle (nmz
11/00, S. 26) lesen, lief darauf hinaus, Organisationen
zu unterstützen, deren Ziele mit dem kulturpolitischem Programm
übereinstimmten. Mehr nicht? Verhielten sich die Nazis
also wie fast alle Regierungen, die ihre Präferenzen durchsetzen?
Aufatmen dürfen dann auch diejenigen, die die Rolle der deutschen
Musikwissenschaft in diesen Jahren für problematisch hielten.
Was so verwerflich schien, entpuppt sich nun als notwendige
Begleiterscheinung in einem überwiegend von Karriereinteressen
geprägten Anpassungsprozess. Zum radikalen Bruch sei es nicht
einmal 1933 gekommen. Warum also die ganze Aufregung?
Die Rezensentin präsentiert diese Ergebnisse aus Pamela M.
Potters überaus lobenswerter Studie (Die deutscheste
der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer
Republik bis zum Ende des Dritten Reiches) ohne jede kritische Einschränkung
und ohne den Abstand zu bisherigen Forschungen zu problematisieren.
Dabei kann ein genauer Leser dem materialreichen Buch Zitate entnehmen,
die solche Grundthesen durchaus in Frage stellen.
Auch Sie, wie so viele andere Wissenschaftler, haben mitgeholfen,
die Mentalität vorzubereiten, die schließlich zu den
Schlachthäusern und Gaskammern der nationalen Konzentrationslager
geführt hat. Unverblümt schrieb dies 1949 aus dem
USA-Exil der deutsch-jüdische Musikwissenschaftler Curt Sachs
an seinen Kollegen Hans Joachim Moser, der während der NS-Diktatur
antisemitische Ansichten verbreitet hatte. Moser war, wie Sachs
bemerkte, kein Einzelfall. Fast die gesamte deutsche Musikwissenschaft
hatte ihren Platz in der nationalsozialistischen Propaganda gefunden.
Diese Anpassung eines ganzen Fachs an das System wurde nach 1945
mit Stillschweigen übergangen. Als nach 1968 kritische Studenten
ein Interesse für solche Fragen zeigten, blockten die Ordinarien
dies ab. Neben Cluytus Gottwald, Christoph Wolff, Michael Meyer,
Eckhard John, Erik Levi und anderen gehört Pamela Potter zu
den ersten Fachleuten, die sich systematisch dem heiklen Thema widmeten.
Die positiven Seiten ihrer wichtigen Arbeit wurden in der Rezension
von Barbara Pikullik schon gewürdigt. Indem Potter die deutsche
Musikwissenschaft in ihren historischen Kontext stellt, widerlegt
sie die verbreitete Auffassung, die Disziplin habe unpolitisch
bleiben können.
Das Problem der deutschen Musik gab der Arbeit den Titel. War aber
die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Vorstellung von den
Deutschen als einem Volk der Musik nur eine propagandistische
Legende? Ist die Fähigkeit deutscher Musiker, sich
Fremdes anzueignen (Bach und Beethoven wären gute Beispiele),
nur ein Vorurteil? Ist es gar möglich, beide Faktoren
umstandslos als Voraussetzungen für Krieg und Holocaust zu
deuten? Eben dies ist gemeint, wenn es heißt, die immanenten
Interessen der Disziplin seien dazu benutzt worden, um die
Vorstellung deutscher Überlegenheit einzuimpfen und damit auch
die Vernichtung der für minderwertig gehaltenen Subjekte zu
rechtfertigen (S. 295). Obwohl dieser Satz dem zitierten Brief
von Curt Sachs zu entsprechen scheint, lässt er ein entscheidendes
Bindeglied außer Acht, das erst den legitimen Nationalstolz
ins Furchtbare pervertierte: die NS-Rassentheorie. Da die Autorin
den massiven Einbruch der Rassenideologie ab 1933 kaum ernst nimmt,
kommt sie zu der erstaunlichen Feststellung, eine Entnazifizierung
der deutschen Musikwissenschaft sei eigentlich unnötig, weil
sie im Dritten Reich an sich nicht nazifiziert worden
war, sondern einen Weg weiterverfolgte, den sie bereits vor 1933
eingeschlagen hatte (S. 232).
Zu den gravierenden Einschnitten des Jahres 1933 gehörte
aber nicht nur die Gleichschaltung der Musikverbände. Neu definiert
wurde auch die Vorstellung von Deutschland als dem Land der Musik:
Hatte sie bis dahin selbstverständlich auch Künstler wie
Felix Mendelssohn-Bartholdy, Joseph Joachim, Bruno Walter oder Arnold
Schönberg umfasst, wurden nun unter dem Diktat der Rassentheorie
Nichtarier ausgeschlossen. Wenn Musikwissenschaftler
wie Alfred Einstein auch im USA-Exil ihre gewachsene Bindung an
die deutsche Musikkultur beibehielten, kann ihnen nicht der groteske
Vorwurf gemacht werden, sie hätten damit nationalsozialistische
(!) Vorstellungen deutscher Überlegenheit nach Amerika
gebracht. Im deutlichen Gegensatz zu den Nazis verbanden Männer
wie Einstein ihre tradierte Bewunderung für die deutsche Musikkultur
gerade nicht mit Rassendoktrinen. Als Curt Sachs in seinem zitierten
Brief an Moser einen Zusammenhang herstellte zwischen Nationalismus
und Auschwitz, meinte er nicht etwa seinen deutschnationalen Kollegen
Einstein. Als entscheidend für die Explosion bewertete
er vielmehr die Rassentheorie, den Zündstoff, der von
Generationen betrügerischer Pseudo-Wissenschaftler wie Chamberlain,
Woltman und Günther (...) gelegt und von Generationen von Lehrern
und Professoren genährt worden ist. Erst mit dem NS-Staat
hatten diese Theorien offiziellen Status und politisches Gewicht
erhalten.
Trotz solcher grundsätzlichen Einwände, einiger Sach-
und Druckfehler (so figuriert die Berliner Musikhochschule als Konservatorium,
der Verleger Hinrichsen als Hinrichson, der Architekt und Rassenforscher
Paul Schultze-Naumburg mit falschem Vornamen, Praktiker wie Hermann
Unger und Fritz Jöde als Musikwissenschaftler und der Dirigent
Peter Raabe gar als Liszt-Schüler) und trotz mancher Verallgemeinerungen
(die Musikwissenschaftler, die Studenten
etc.) enthält der Band eine Fülle wichtiger Informationen
und Einsichten. Es empfiehlt sich allerdings eine nicht ganz unkritische
Lektüre.