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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 25
50. Jahrgang | April
Hochschule
Musikleben und Musikstudium als Spannungsfeld
Überlegungen zur Reform der Ausbildung an Musikhochschulen
(Teil I) · Von Christoph Richter
In der Februar-Ausgabe der neuen
musikzeitung (S. 24) stellten wir das Konzept vor, mit dem sich
die Folkwang-Hochschule Essen in den kommenden Jahren reformieren
will und dessen Kern eine Modularisierung des Studienangebots sein
wird. Nun drucken wir in gekürzter Form einen Vortrag ab, den
Prof. Christoph Richter Anfang des Jahres an der Folkwang-Hochschule
zu diesem Thema gehalten hat und der in einem ersten Teil die Voraussetzungen
analysiert, denen sich eine Umgestaltung des Hochschulstudiums heute
zu stellen hat.
Eine Reform der Musikausbildung im Hochschulbereich sollte einerseits
bei Erörterungen der Ziele und Aufgaben ansetzen, auf die diese
Ausbildung sich richtet, sowie andererseits bei der Erörterung
jener Situationen, in denen die Ausgebildeten berufliche Bewährung
und individuelle Entfaltung ihrer Vorstellungen und ihrer Möglichkeiten
finden können.
Zwei unterschiedliche Voraussetzungen also sind zu beleuchten,
die als Maß einer Reform gelten können. Die eine findet
sich in den Institutionen, Aufgaben und Situationen des Musiklebens,
und zwar sowohl in seinem tradierten und noch geltenden Bestand
als auch in seinen schon absehbaren Entwicklungen. Anders gesagt:
Musikausbildung muss auf die bestehenden und auf die zukünftigen
Musikberufe und musikalischen Tätigkeiten hin ausgerichtet
sein.
Als die andere Voraussetzung muss jenes Bild des Musikers gelten,
das sich aus den Vorstellungen, Interessen, Vermögen und Einstellungen
der Studierenden (und der zukünftig Studierenden) zusammenfügt.
Denn sie sind es, die das bestehende Musikleben und seine Weiterentwicklung
mit Leben füllen (werden). Die Erörterung der beiden Reformvoraussetzungen
Musikleben und Musikerbild wird am ehesten einer Reform
zugute kommen, wenn sie nach dem Prinzip Anpassung und Widerstand
verfährt (um einen berühmten Buchtitel zu zitieren) oder
nach dem Prinzip Beteiligung und Stärkung versus Innovation
und Veränderung. Mit anderen Worten: eine sinnvolle Reform
wird aus einer fruchtbaren Polarität und vom warm gehaltenen
Streit ihre Energien und ihr Engagement beziehen. Den Streit nicht
beizulegen, sondern wach zuhalten, bürgt für den Erfolg
einer Reform.
Außerdem ist als eine Prämisse zu beachten: Eine Reform
der Musik-hochschulen gerät auch immer zu einer Reform des
Musiklebens oder sollte es wenigstens. Denn eine Musikhochschule,
als eine Institution, die nicht nur für Ausbildung zuständig
ist, sondern auch für die Reflexion und Vermittlung der Musik
und des Musizierens, hat ja die doppelte Aufgabe, dem Musikleben
neue Kräfte zuzuführen und es andererseits mit Kritik,
Alternativen und Veränderungen weiterzuentwickeln.
Eine dritte Einflussgröße darf bei diesen Überlegungen
nicht übergangen werden: die prägende, sowohl bewahrende
als auch innovative Art und Wirkung der Lehre und der Lehrenden,
die ja so sind, wie sie sind mit ihrem speziellen Können,
in ihrem Vorbild, in ihrer pädagogischen Geschicklichkeit,
in ihrem menschlich und künstlerisch prägenden Einfluss,
in ihrem mehr oder weniger ausgeprägten Engagement für
die dauernd notwendige Entwicklung der Hochschulen. Die Lehrenden
sind einerseits eine Energiequelle für die Hochschulen selbst
und andererseits Teil des Musiklebens; sie sind auch eine positive
oder negative Reibungsfläche bei der Entwicklung der Studierenden
als Musiker, als Wissenschaftler und als Lehrer. Eine Hochschulreform
ohne die Eigenart und Intentionen der Lehrenden zu versuchen, würde,
wieder einmal, ein Geschöpf hervorbringen, in dessen Adern
kein Blut fließt sondern verstopfendes Altöl; eine Maschine
ohne Motor. Darüber ist im Zusammenhang mit der Berufungspolitik
einer Hochschule zu reden.
Musikleben und Musikerbild
Die beiden genannten (und potenziell konträren) Reformvoraussetzungen
das Musikleben und das Musikerbild der Nachwachsenden
bedürfen zuverlässiger und gesicherter Situati-ons-, Institutions-
und Entwicklungsanalysen. Sie fehlen leider. Da sie in diesem Zusammenhang
nicht zu leis-ten sind, müssen Andeutungen genügen. Ich
wähle solche, die vorwiegend auf Veränderungen der musikalischen
Tätigkeiten im Musikleben aufmerksam machen:
Neben den traditionellen Orchestern entstehen seit geraumer
Zeit freiere oder freie Ensembles, deren Musiker ihre Tätigkeiten
auf spezielle Musikarten, Spielweisen, Konzert- und Probenformen,
auf spezielle Arten des Managements und der Präsentation,
auf veränderte Mitbestimmungs- und Hierarchieprinzipien im
Künstlerischen wie im Organisatorischen ausrichten. Und auch
die traditionell konzipierten und arbeitenden Orchester entwickeln
neue Konzert- und Arbeitsformen, erweitern die musikalischen Genres
und die Spiel- und Interpretationsweisen. Für die Ausbildung
bedeutet dies die Notwendigkeit, jene engen Einbahnstraßen
in bestimmte Berufe zu verlassen, die über die Transportmittel
orchesterdienliche Technik, Orchesterstellen, bestimmte
Solokonzerte zu den Endbahnhöfen Orches-terdienst,
Kammermusik, Solistenkarriere führen.
Auch die Ausrichtung des individuellen Musikerbildes erweitert
sich und bildet Mischungen, An- und Ausbauten, neue Fundamente
oder veränderte Möblierungen. Das betrifft die Gleichzeitigkeit
oder das Nacheinander vielfältiger künstlerischer, wissenschaftlicher,
pädagogischer und organisatorischer Tätigkeiten.
Ein neu entdecktes, erst noch zu eroberndes und zu kultivierendes
Gebiet ist die Vermittlung von Musik. Sie hat künstlerische,
pädagogische, präsen-tationsbezogene und organisatorische
Aspekte und wird im Zusammenhang ganz verschiedener musikalischer
Tätigkeiten und Berufe entwickelt und betrieben.
Musiklehrer an allgemein bildenden Schulen werden, nach einer
sehr allgemeinen, traditionell verengten und daher stets defizitären
Ausbildung, in ihrer Berufspraxis mit Aufgaben und Problemen konfrontiert,
für die sie nicht hinreichend ausgebildet sind. Sie werden
jedoch von den Schulen zunehmend gerade wegen spezieller Fähigkeiten
und für spezielle Tätigkeiten ausgewählt. Sie leiden
sowohl an einem unstudierbaren Musiklehrerstudium als auch an
jener wuchernden Themen- und Tätigkeitspalette, die dem Musikunterricht
aufgebürdet wird: von der Singschulung bis zur BigBand-Arbeit,
von der Elementarlehre zu Leistungskursanalysen, von außereuropäischer
Musik bis zum Umgang mit Kindem aus aller Welt, von kulturverbindenden
bis zu lebensweltlich-philosophischen Themen.
Instrumentallehrer ohne Fähigkeiten in Gebieten wie der
U-Musik, Musiktheorie, Bewegungslehre, neuen Spieltechniken, Ensembleleitung
oder Psychologie des Übens haben schlechte Berufschancen.
Kirchenmusiker sind gehalten, sich über Orgelkunst und
Chorarbeit hi-naus mit Manager- und Moderationstätigkeiten,
mit allgemeiner Elementarlehre, mit musikalischer Früherziehung
und Erwachsenenbildung zu beschäftigen.
Die bisher betriebene Ausbildung von Sängerinnen und Sängern
in gegenseitig abgeschotten Gesangs-Sparten steht mehr und mehr
in Opposition zur Berufswirklichkeit. Sänger müssen
sich heute wieder in allen Sparten bewähren und alle Arten
des Singens und der Darstellung beherrschen, und zwar sowohl,
weil die Theater alle Sparten anbieten müssen, als auch,
weil sich die Arten des Singens innerhalb der Sparten immer mehr
mischen.
In der Ausbildung zum Schauspieler wird es ebenfalls immer notwendiger,
ein Breitbandstudium anzustreben, das die Ausbildung im Tanzen,
in der Bewegung, im Singen, in der Kabarett-Kunst einschließt.
Die Zahl der freien Musiker nimmt zu, nicht nur aus Not, sondern
aus Überzeugung, und erfolgreich dann, wenn sie entweder
in Spezialgebieten hoch qualifiziert oder wenn sie in vielen Arten
der Musik und des Musizierens zu Hause sind. Die Gesellschaft
der Musiker ist eine mobile Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft
der mehrfachen Mitgliedschaft in ganz unterschiedlichen Ensembles,
eine Gesellschaft edler und edelster Muggen, zwischen den Kontinenten
sich ebenso bewegend wie zwischen Dorf und Stadt. Sie müssen
also auch Reisespezialisten sein und Organisationstalente, sich
rasch um- und einstellen können auf andere Musiziersituationen
und Ensembles.
Ich gehe über zur Beschreibung von Musikerbildern, die entstanden
oder in Entstehung begriffen sind:
Da gibt es nach wie vor zukünftige Musiker, die zielgerichtet
auf eine Tätigkeit im Orchester und auf die Erfüllung
der dort verlangten Fähigkeiten zusteuern im Hinblick
auf die Spieltechnik, das Spielen in Gruppen, auf Literaturkenntnis,
auf die Zugehörigkeit zur oft bemühten Orchesterdemokratie
und/oder auf die Zugehörigkeit zur großen und vielfältigen
Gemeinschaft eines Opernhauses mit seinem Gesamtkunstwerkerlebnis.
Da gibt es den Musiker, dessen künstlerisch-handwerkliches
Interesse sich vorwiegend auf aufführungspraktische und musikhistorische
Spiel- und Interpretationsweisen richtet, oder solche, die sich
der Neuen Musik, dem Jazz, der Rockmusik oder volksmusikspezifischen
Genres verschreiben.
Da gibt es die Vorliebe und Spezialisierung für Kammermusik,
für musikalische Kommunikationsbedingungen und -prozesse.
Da gibt es das Bild des Musikers, der nach Vielseitigkeit des
Musizierens und der Literatur verlangt.
Da gibt es Musiker, deren besonderes Interese das Unterrichten
ist, die sich mit dem Lehren und Lernen von Spieltechniken und
Interpretation, mit Methoden des Übens, mit der musikalischen
wie handwerklichen Entwicklung Jugendlicher und mit instrumentaldidaktischen
Fragen beschäftigen wollen.
Da gibt es das Bild des Musikers, der sich als Kulturmanager
betätigen möchte und hierfür eine verlässliche
künstlerische Ausbildung und Qualifikation für wichtig
hält.
Da gibt es den Musiker, der künstlerische Fähigkeiten
als Grundlage für musikwissenschaftliche oder musiktheoretische
Tätigkeiten wählt.
Da gibt es das Bild des Musikers, der seine Kunstausübung
mit einem soliden Wissen in der Geschichte, der Theorie und der
Ästhetik verbinden möchte und das vielseitige Verstehen
von Musik als Fundament und Anregung des künstlerischen Tuns
zu brauchen glaubt.
Führt man sich die Veränderungen im Musikleben und die
veränderten Ansprüche an Musiker vor Augen und versucht
man außerdem, die veränderten Musikerbilder zu verstehen,
so scheint es kaum noch angemessen, auf die traditionell eingeschränkten
und engen Berufsbilder hin auszubilden oder den Studierenden den
Verzicht auf eine umfassende allgemeine musikalische Bildung zu
gestatten. Die Reformschwerfälligkeit der Musikhochschulen
und das gelegentlich fehlende oder schwach ausgebildete Verständnis
für die genannten und im Gange befindlichen Veränderungen
bringt die Arbeit der Hochschulen und die Berufsvorbereitung der
ihr Anvertrauten zunehmend organisatorisch wie inhaltlich in Schwierigkeiten.
In einem dritten Aufzählungskatalog stelle ich immer
noch bei der Diagnose verharrend einige dieser Schwierigkeiten
zusammen:
Organisatorische Probleme
Die in Gang befindlichen Veränderungen im Musikleben und
die Tendenz, eigene individuelle Musikerbilder zu verwirklichen,
bringen Unordnung und Unübersichtlichkeit in die Organisation
und die Struktur der Musikhochschulen. Sie führen zu immer
komplizierteren Um- und Anbauten sowohl innerhalb der Fächer
als auch der Studiengänge.
Viele, vermutlich der größere Teil der Studierenden,
erweitern ihr grundständiges Studium längst schon durch
Aufbaustudien, durch Zusatzqualifikationen, durch Spezialfächer
oder -angebote. Doppelstudien, weiterbildende Studieneinheiten für
bereits im Beruf stehende Musiker, Umorientierungen und Umschulungen
belasten die Hochschulen in zunehmendem Maße organisatorisch
wie finanziell. Einige Beispiele:
Vor kurzem standen für das Orchester einer bestimmten
Hochschule nur zwei von zehn Trompetenstudenten zur Verfügung.
Die anderen hatten Stellen in Orchestern, reisten nur gelegentlich
zum Aufbau-Unterricht an und müssen noch nicht einmal Studiengebühren
bezahlen.
Es ist üblich, dem Schulmusikstudium ein instrumentalpädagogisches
anzuhängen (oder umgekehrt). Dadurch werden Langzeitstudenten
und doppelte Prüfungen produziert. Helfen würde hier
ein selbst zusammengestelltes gemischtes Studium, das auf beide
Tätigkeiten vorbereitet.
Viele zukünftige Kirchenmusiker erkennen, dass sie etwas
von musikalischer Früherziehung, von Kinderchorarbeit, von
Musikvermittlung und (verbaler) Interpretation verstehen müssen.
Im Normal-Studienplan ist das alles nicht enthalten.
Es steigt das Interesse von Instrumentalstudierenden, auch
noch Dirigieren zu lernen, um den Umgang mit Musik und den inneren
Zusammenhang von Musik und auch das Dirigieren besser zu verstehen,
unter dem sie gelegentlich leiden.
Komponisten können nur mit Hilfe anderer Berufstätigkeiten
existieren. Sie versuchen, leider erst nach ihrem Studium, Musiktheorielehrer,
Musiklehrer oder etwas anderes zu werden.
Studierende mit dem künstlerischen Hauptfach Klavier sehen
irgendwann ein, dass sie Geld verdienen müssen als
Begleiter, Korrepetitoren, als Manager, als Musikvermittler oder
als Professoren, die dann wieder viele Pianisten ausbilden.
Diese Probleme lediglich durch partielle Erweiterungen der Studiengänge
und durch ein mehr oder weniger geordnetes oder zufälliges
System neuer Fächer und neuer Zusatz- und Aufbaustudien auffangen
zu wollen, erweist sich mehr und mehr als unübersichtliches
Flickwerk.
Eine Ausbildungsinstitution für Musikberufe hat die Aufgabe,
in transparenter und flexibler Weise einerseits auf die Wunschbilder
eines Musikers stärkend und anregend einzugehen und andererseits
selbst neue und veränderliche Bilder vom Musiker und von Musikberufen
zu entwerfen und anzubieten. Eine Reform der Musikhochschule muss
also Viererlei berücksichtigen und als Studienmodelle anbieten:
die Möglichkeiten und Entwicklungen, die das Musikleben
bietet und fordert,
eine Vielzahl und Vielseitigkeit der Musikerbilder gemäß
der Interessen und Vorstellungen der Studierenden sowie der Vorbilder
der Lehrenden,
Hochschul- und Studienkonzepte für zukunftsweisende, flexible,
und Mischungen der Studienangebote ermöglichende Studienpläne
und Abschlüsse,
erweiterte und vielseitige Angebote allgemeiner und allgemein-musikalischer
Bildung für alle Studienrichtungen und Musikerbilder.
Aus den angedeuteten Fakten und Tendenzen ergeben sich Zwänge,
aber auch Chancen, die als Voraussetzungen für ein inhaltlich
und strukturell reformiertes System der Musikhochschulausbildung
grundlegend sind.
Der in der kommenden Ausgabe folgende zweite Teil meiner Überlegungen
wird als Andeutung einer Therapie in zwei größere
Teile gegliedert sein: erstens in Überlegungen zu allgemeinen
Strukturprinzipien und zweitens in Versuche einer inhaltlichen und
organisatorischen Ausfüllung dieser Prinzipien mit dem Mittel
eines Lehr- und Lernangebots in Modulen, also einer Modularisierung
des Hochschulangebots.