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nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 26
50. Jahrgang | Mai
Hochschule
Modularisierung des Studiums als Versuch einer Therapie
Überlegungen zur Reform der Ausbildung an Musikhochschulen
(Teil II ) · Von Christoph Richter
Nachdem Christoph Richter in der vergangenen Ausgabe der neuen
musikzeitung (S.
24) die Herausforderungen skizzierte, denen sich eine Reform
der Ausbildung an Musikhochschulen in der heutigen Zeit zu stellen
hat, stellt er in einem zweiten Schritt das Modell vor, das diesen
Herausforderungen am besten gewachsen zu sein scheint: die Modulariserung
des Studienangebots.
Ein formales und grobes Gerüst für die Hochschulstruktur
ergibt sich aus den Tätigkeiten und Fähigkeiten, die gelehrt
und gelernt werden sollen sowie aus den Zielen, die mit ihnen verfolgt
werden. Dieses Gerüst besteht:
aus dem Prinzip des Lehrens und Lernens in (Einzel-)Fächern;
aus dem Prinzip, aus einem Netzwerk einzelner Fächer bestimmte
Berufsbilder zusammenzufügen;
aus einem Angebot oder Pool Kompetenz erweiternder Fächer
sowie aus dem Prinzip der Mischung und der Aufeinanderfolge verschiedener
Ausbildungssets;
aus dem Prinzip vielfältig verschiedener Arbeits- und
Tätigkeitsformen;
aus einem Organisations- und Managersystem, welches die Organisationsform
eines modularisierten Studiums ermöglicht.
Das für eine reformierte Musikhochschule wichtigste Prinzip
jedoch sollte darin bestehen, allen Studierenden ein selbst verantwortetes
eigenes individuelles Studium zu ermöglichen.
Zu 1. In einer Musikhochschule muss es Orte geben, an denen Können,
Wissen und methodisches Vorgehen für künstlerisch-handwerkliche,
wissenschaftlich-theoretische und pädagogische Tätigkeiten
und Fähigkeiten gelernt werden. Diese Orte sind die Einzelfächer.
Zu diesen Orten gehören:
im wissenschaftlich-theoretischen Bereich: Musik- und Kulturgeschichte,
Ästhetik (Philosophie), Musiktheorie (einschließlich
Analyse), Interpretation;
im pädagogischen Bereich: Unterrichten, Musikvermittlung,
Interpretation, Üben, Anleitung zum Musizieren, Psychologie.
Die Fächer haben zwei Aufgaben. Sie sind entweder selbstständige
oder Hauptfächer und/oder Dienstleistungsfächer. Zum Beispiel
ist für einen Studierenden, der Cellist werden will, der Cellounterricht
der Hauptgegenstand; die Musikgeschichte oder vielleicht die Rhythmik
sind dienstleistende Fächer.
Zu 2. In einer Musikhochschule muss es ferner Orte geben, die einen
Zusammenhang von grundständigen Berufsbildern und Musikerbildern
anbieten. Diese Bilder sind zum Beispiel: Orchestermusiker, Solist,
Dirigent oder Musiklehrer. Für solche Berufsbilder werden jeweils
mehrere Fächer so zusammengefasst, dass sie ein (Mindest-)Berufsbild
anbieten. Der Fächerzusammenhang dieser oder anderer Berufsbilder
wird durch die Einrichtung zusammenfassender Hochschul-Institutionen
garantiert. Sie sind für die Gestaltung des Studienablaufs
und -zusammenhangs verantwortlich, für Prüfungen (gemeinsam
mit den Fachgruppen), für Studienreformen, für möglichst
enge Beziehungen zwischen den berufsbildbildenden Fächern
und nicht zuletzt auch für die Berufsbezogenheit der Lehre
in al-
len betroffenen Fächern; berühmt-berüchtigtes defizitäres
Beispiel: eine Musiktheorie, die für den Musikunterricht in
der Schule sinnvoll ist.
Zu 3. Eine wichtige Säule des Strukturgerüsts sind Lehr-
und Lernangebote, die sowohl die Fächer als auch die berufsbezogenen
Studiengänge erweitern, Alternativen zu ihnen oder Angebote
aus anderen Studiengängen anbieten, ferner überfachliche
und außermusikalische Angebote. Sie sollen die Berufsbilder
ausdifferenzieren, neue Berufsbilder ermöglichen, Verbindungen
zwischen ihnen schaffen sowie Spezialfähigkeiten und -tätigkeiten
ermöglichen. Ich bezeichne sie als Kompetenz erweiternde
Studienangebote.
Zu 4. Das Strukturgerüst enthält ferner Aussagen über
verschiedene Arbeits- und Lehrformen, Aussagen über Gruppengrößen,
über studentische Eigenarbeit, über Häufigkeit und
Dauer des Unterrichts, über mögliche Abschlüsse und
ihre verschiedenen Arten, über Beziehungen zwischen Fächern
und Lehrangeboten, über Projekte und andere Formen der Zusammenarbeit
innerhalb und außerhalb der Hochschule.
Zu 5. Zum Strukturgerüst einer Musikhochschulegehört
eine Organisations- und Managerabteilung. Sie hat die Aufgabe, einerseits
Studien- und Berufsprofile, andererseits Projekte als Lehr- und
Lernformen zu entwi-ckeln und zu organisieren, das öffentliche
Konzert-, Vortrags-, Symposium-, Theater- oder Opernleben und andere
Darstellungsformen zu betreuen, das Prüfungswesen, eine ständige
Studienberatung und vor allem auch das System der Module, ihrer
Ausrichtung, ihrer Zusammenhänge, ihrer Zugehörigkeit
zu Fächern und Studienprofilen zu entwickeln, zu organisieren
und zu betreuen.
Selbstverantwortliches Studium
Zu 6. Das wichtigste Prinzip einer veränderten Hochschulstruktur
ist die Eigenverantwortung und die selbstverantwortliche Entscheidung
der Studierenden über die Gestaltung, Planung und Einrichtung
ihres Studiums. Dieses Prinzip mag utopisch erscheinen und eine
idealtypische Auffassung einer Hochschulreform beschreiben. Damit
aus der Utopie eine sinnvoll-reale Möglichkeit entsteht, muss
die Hochschule für die Entscheidungen eines eigenen Studiums
Rahmenbedingungen schaffen. Vier Voraussetzungen könnten diesen
Rahmen setzen: Ein berufsbildbezogenes Fundament mit frei zu wählenden,
gleichwertigen Alternativen und Schwerpunkten, genaue Angaben über
die zu erreichenden End-Kompetenzen, Kompatibilität der Lehrangebote
mit anderen sowie Transferfähigkeit der einzelnen Veranstaltungen
im Hinblick auf Methoden und Inhaltsaspekte. Auf dieser Basis ist
es möglich, ein Musikstudium als selbst zusammengestelltes
und seIbst verantwortetes Studium auf bestimmte (mehrere?) Qualifikationen
hin auszurichten. Das für mich wichtigste Struktur-Prinzip
des eigenen, selbst verantworteten, individuellen Studiums ist ferner
an einige formale Bedingungen gebunden: Notwendig sind eine ständige
Studienberatung und -begleitung durch die Lehrenden sowie die Transparenz
der Studienangebote (was sie leisten, wie sie vorgehen, wofür
sie Transfer leisten, womit sie kompatibel sind, zu welchem Studiengang
sie etwas beitragen). Die Chancen für diese Art von Musikstudium
ist für mich das wichtigste Argument für die Modularisierung
als Strukturform.
Die Frage, warum die Anordnung der Fächer und Studiengangstruktur
wie bisher in angegebenen SWS (Semesterwochenstunden) Nachteile
gegenüber einer Ordnungsstruktur in Modulen besitzt, kann beantwortet
werden:
Module und SWS bilden keinen Gegensatz. Vielmehr sind SWS formale
Zeitangaben, die auch als Zeitmaß von Modulen gelten. Freilich
sind SWS (fast nie) inhaltlich bestimmt.
Module nötigen zu einer genauen inhaltlichen Beschreibung
und inneren Gliederung.
Module nötigen zu einer ständigen Überprüfung
von Inhalt, Ausrichtung und Zusammenhang mit anderen Modulen.
Module bieten den Studierenden bessere Informationen an: mehr
Transparenz, bessere Vergleichbarkeit, bessere Argumente für
ihre Auswahl sowie eine bessere Berücksichtigung individueller
Interessen.
Formale Voraussetzungen
Module in der Hochschullehre müssen bestimmte formale Bedingungen
erfüllen, damit sie sich als Teileinheiten in Studienzusammenhängen
und als Bauelemente für größere Einheiten eignen:
Sie müssen in sich geschlossen und auf definierte sowie
überprüfbare Ziele hin ausgerichtet sein.
Sie sollen selbstständige Funktionen im und für den
Zusammenhang von Fächern oder Studienkomplexen erfüllen
(sie sind verschieden andockbar).
Sie müssen auch inhaltlich genau beschrieben sein.
Ihre Lern- und Lehrvoraussetzungen müssen ebenso wie die
erreichbaren Fähigkeiten und Tätigkeiten genau beschrieben
und nachvollziehbar aufgebaut sein.
Einzelne Module sollen den Zeitraum eines ganzen Semesters,
gegebenenfalls auch eines Studienjahres oder lediglich eines Teils
von Semestern umfassen.
Fünf Arten (Klassen, Typen) von Modulen sind zu unterscheiden:
A) pflichtmäßig zu absolvierende Module, aufbauend
in festgesetzter zeitlicher Reihenfolge zu belegen;
B) pflichtmäßig zu absolvierende Module, die in
frei wählbarer zeitlicher Reihenfolge zu belegen sind;
C) Wahlpflicht-Module; aus vergleichbaren Angeboten ist eine
vorgegebene Mindestanzahl nach freier Wahl zu absolvieren
(Alternativ-Module);
D) zusätzliche, Kompetenz erweiternde Module;
E) Übungs-, Wiederholungs- und Vorbereitungsmodule.
Alle angebotenen Module müssen in ihrer inhaltlichen und
methodischen Beschreibung deutlich darüber Auskunft geben,
zu welchem Typus sie gehören und in welchem Zusammenhang
sie belegt werden können (wie sie verrechnet
werden können). Sie müssen in ihrer Beschreibung darüber
Auskunft geben, in welchem Aufbauzusammenhang sie stehen.
Sie sollen deutlich als zu einem oder mehreren Studienzusammenhängen
gehörig oder belegbar ausgewiesen werden. Sie sollen oder
können, soweit dies sinnvoll ist, in verschiede-
ne Studienzusammenhänge eingebaut werden können. Module
sollen verbindungsfähig sein mit oder zu anderen Modulen
desselben Fachs, aber auch zu anderen Lehrangeboten und Studienzielen,
also koppelungsfähig in horizontaler wie vertikaler Richtung
(zum Beispiel Module der Gehörbildung ausgerichtet auf die
notwendigen Hörweisen für das Musizieren im Orchester).
Module in der Hochschularbeit sollen bei aller zu bewahrenden
Freiheit der Lehre und bei aller Rücksicht auf die Individualität
des Lernens, Lehrens, Übens und Darstellens so weit standardisiert
sein, dass sie von verschiedenen Lehrenden betreut, auf verschiedene
Gegenstände ausgerichtet, mit verschiedenen Methoden erfüllt
und für unterschiedlich befähigte und gebildete Studierende
benutzt werden können.
Module können und sollen verschiedene Arbeitsformen anbieten
(oder aus methodischen Gründen auch ihren Wechsel): Vorlesungsformen,
Seminarformen, Teamarbeit, Projektformen, Studierende unterrichten
Studierende, musikpraktische Arbeit et cetera. Für die Anbieter
von Modulen sollte es folgende Formen von Zusammenarbeit unter
Kollegen geben: fachübergreifende Arbeitsformen, Ringvorlesung,
Teamarbeit unter Kollegen, gegenseitige Evaluation und gemeinsame
curriculare Arbeit, um Modul-Zusammenhänge zu gewährleisten.
Studienzusammenhänge
Der Gesamtbau eines modularisierten Studiums muss auf der Grundlage
von Prüfungsordnungen errichtet werden. Die Darstellung von
Studien auf der Basis von Modulen muss als Struktur- und Studienplan
für die einzelnen Studiengänge, Abschlüsse, Zusatzqualifikationen
und Kombinationsstudien beschrieben werden.
Die Studienpläne müssen deutlich machen, welche Module
pflichtgemäß, als Wahlpflichtangebot, als zusätzliche
Angebote, in welcher Reihenfolge oder ohne, zu welcher Zeit, in
welchen Folgen, mit welchen Abschlüssen zu welchem Zeitpunkt
absolviert werden sollen oder können. Die Studienpläne
müssen alternativ belegbare, verzichtbare, nachholbare Module
kennzeichnen.
Die Studienpläne müssen Aussagen über die Anrechenbarkeit
von Modulen machen, etwa aus anderen Studiengängen, aus anderen
deutschen Hochschulen oder Universitäten, aus Studienleistungen,
die in anderen Ländern erbracht und anerkannt wurden.
Die Hochschule oder die einzelnen Fächer oder Studiengänge
müssen Bewertungsmaße festlegen (in Form von credit points,
Zensuren, bloßer Zurkenntnisnahme) und Aussagen darüber
machen, wie es in der Hochschulverantwortung und in Staatsprüfungsverantwortung
zu Bewertungen kommt.
Die Möglichkeit, das Studium zu modularisieren hat Grenzen.
Nach meiner Einschätzung ist die Modularisierung nicht sinnvoll
oder nicht möglich: im künstlerischen Einzelunterricht
auf Instrumenten, in den Fächern Dirigieren und Komposition,
im Fach Gesang; in langfristig arbeitenden Kammermusikgruppen; in
Kolloquien (für Examenskandidaten, für Doktoranden); möglicherweise
auch in Berufspraktika und deren Betreuung.
Modul-Baustelle
Um die Lehrangebote einer Musikhochschule auf eine Modul-Struktur
umzustellen, bedarf es, wie ich glaube, dreier Maßnahmen:
eines langsamen und allmählichen Aufbaus, einer andauernden
Evaluation, Kontrolle und Verbesserung der Modul-Struktur sowie
eines Modul-Managements. Eine Hochschule, die ihre Angebotsstruktur
auf die Grundlage von Modulen und auf ein Netz von Modulen umstellen
will, sollte dies in einem langsamen und partiellen Aufbau vollziehen.
Sie könnte beginnen mit der Diskussion über den Bau von
Modulen innerhalb einzelner Fächer und Fachgruppen, mit ihrer
Erprobung und ihrer offiziellen Einführung. Hierbei sollten
vier Aspekte eine Rolle spielen:
ein systematischer Aufbau der Zielsetzung, der Gegenstände,
der Handlungsformen, der Kontrollen und Abschlüsse des Faches
und erst danach seine Gliederung in einzelne Module, die aufeinander
aufbauend einen abgeschlossenen Zusammenhang ergeben. Es würde
eine Modulkette entstehen, die in bestimmten Studiengängen
pflichtgemäß oder in freier Belegbarkeit zu durchlaufen
wäre. Für die Konstruktion solcher Prototypen von Modulen
und Modulketten eignen sich gut systematisierbare Fächer
wie Gehörbildung, Tonsatz, Formenlehre oder Musikgeschichte,
aber auch Fächer wie Kammermusik, Tanz oder Darstellendes
Spiel.
In denselben Fächern könnten sodann solche Lehr-Lern-Einheiten
zusammengestellt werden, die als Alternativen zu jenen unter 1.
errichteten, als Erweiterungs- oder als Übungsmodule angeboten
werden.
Solche Module und Modulketten müssen als Pflichtveranstaltung,
als Alternativen, Erweiterung oder Übung in Eignung oder
in ihrer Zugehörigkeit zu einem oder mehreren Studiengängen
ausgewiesen werden.
Ferner sollten Verbindungen der Module oder Modulketten nach
Punkt 1 bis 3 ausgewiesen werden, die zu Modulen anderer Fächer
passen, zum Beispiel Modul Tonsatz 1 zu einer Lern-Lehreinheit
,,Methoden des Musikunterrichts.
Modularisierung der Lehre ist nicht ein einmaliger, sondern ein
ständiger Vorgang. Die konstruierten, erprobten und angewandten
Module und Modulketten sind immer wieder zu erörtern, zu verbessern
und zu verändern. Dies ist eine Aufgabe des Fachkollegiums,
vielleicht in Zusammenarbeit mit den betroffenen Kollegen anderer
Fächer und Studiengänge. Die Überprüfung betrifft
die Ziele, die Gegenstände, die Methoden, die Überprüfungen
und den Zusammenhang mit anderen Modulen. Auf diese Weise kommt
zustande, was immer schon Aufgabe einer Hochschule war oder gewesen
wäre: eine ständige Reformdiskussion. Von besonderer Wichtigkeit
ist der Evaluationskontakt zu den betreffenden Studiengängen
und die Frage nach der Berufsbezogenheit der Fachangebote. Sinnvoll
ist darüber hinaus der Kontakt zu anderen Hochschulen, zu den
Gesellschaften oder Arbeitsgemeinschaften der Fächer.
Eine teilweise oder vollständige Modularisierung funktioniert
nur, wenn sie professionell begleitet, betreut, kontrolliert und
verbessert wird. Hierfür bedarf es eines Gremiums und an seiner
Spitze eines hauptamtlichen Leiters. Er ist für vielfältige
Aufgaben verantwortlich und sollte ein kompetenter Musiker sein,
das heißt von den modularisierten Lern-Lehrvorgängen
inhaltlich genug wissen, außerdem freilich auch von den Konstruktions-bedingungen
musikbezogener Modulsysteme. Seine (und des Gremiums) Aufgaben umfassen:
Planungsverantwortung und Angebote von verallgemeinerbaren
Prototypen für die Herstellung von Modulen;
Kompetenz und Hilfe bei der Konstruktion einzelner Module, Modulketten
und Modulzusammenhängen;
Benutzungsberatung und Anlaufstelle für die Anerkennung
von Modulen;
Leitung der Evaluation auf allen Ebenen;
Grundlagenforschung im Bereich der Hochschuldidaktik und Modularisierung;
Verantwortung und Anlaufstelle für die Zusammenarbeit zwischen
Hochschulen, national und international.
Teil 3 (Beispiele für modularisierte Studiengänge) als pdf-Datei
(7 kB)