WR: Ich denke mir, allgemein wird ja wohl ein Bild davon bestehen,
was ein Musiker macht. Aber was macht ein Musikwissenschaftler?
Also der Komponist komponiert, der Pianist spielt Klavier
was macht der Musikwissenschaftler?
RB: Was macht der Musikwissenschaftler? Der Musikwissenschaftler
denkt nach über Musik und ihren Kontext.
WR: In wessen Interesse?
RB: Wobei denkt nach über jetzt auch noch spezifiziert
werden muss. Er denkt über Musik nach er denkt der
Musik nach, das ist mein Prä, mein Erstes: ein Musikwissenschaftler
muss Musiker sein. Das heißt, dass er argumentiert aus engster
Nähe zur Musik, einem fast körperhaften Kontakt mit
Musik, und erst von da aus zu Interpretationen, zu Kontextstudien
und so weiter fortschreitet. Und ich glaube, das macht den guten
Musikwissenschaftler aus.
WR: Das entspricht genau einer Erfahrung, die ich als Student
machen durfte. Als ich ins musikwissenschaftliche Seminar von Interesse
getrieben kam, stellte ich fest, dass der körperliche Kontakt,
der körperhafte Kontakt mit Musik eigentlich kaum gesucht wurde.
Es wurde der Kontakt vom Auge auf die Partitur gesucht und dann
wurde das gleich ins Verbale rückgespiegelt. Aber diese körperhafte
Beziehung, die fand ich skandalöserweise nicht vor. Bei einigen
angelegt, aber verborgener.
RB: Sie wird auch in der Ausbildung ja gar nicht akzentuiert.
Was ein Manko ist vor allem auch der deutschen Ausbildung. Ich
lebe ja jetzt in den USA, und wir haben dort gleichzeitig Graduate-Studenten
der Musikwissenschaft und Graduate-Studenten in Komposition (daneben
noch Theoretiker und Ethnomusikologen). Und diese Studenten studieren
zusammen, sitzen gemeinsam in denselben Seminaren. Das ergibt
eine ganz andere Qualität der Ausbildung. Die Komponisten,
die in einem Mahler-Seminar eine Mahler-Partitur analysieren,
bringen einen ganz anderen Zugang zur Musik ins Spiel, der beispielhaft
sein kann, eine Herausforderung, bis aufs Mark bloßstellend
für den Musikwissenschaftler. Und umgekehrt können die
Komponisten durch ästhetische Fragestellungen wie durch Kontextstudien
ihr Feld, ihr Begriffsfeld der Musik sehr erweitern. Die deutsche
Trennung von praktischer Ausbildung an den Hochschulen und theoretischer
Ausbildung an den Universitäten geht zu Lasten der Musikwissenschaftler.
WR: Wird also ein Komponist besser, wenn er Musikwissenschaft
kennt oder betreibt? Oder wird ein Musikwissenschaftler besser,
wenn er komponiert?
RB: Weder noch. Dass ein Komponist besser komponiert, nein!...
Jedenfalls nicht grundsätzlich, höchstens graduell,
aber er das weißt du selber er wird natürlich
einen weiteren Horizont haben, er wird sensibler reagieren.
WR: Sein Haus bekommt Keller und Speicher.
RB: Ja. Und umgekehrt, ein Musikwissenschaftler braucht ja nicht
zu komponieren. Aber dass er diesen anderen, genuin kompositorisch-schöpferischen
Zugang zur Musik erfährt, diesen ganz direkten Bezug, das
ist von großer Bedeutung. Ich versuche immer, meinen Studenten
zu sagen, musiziert, vergesst nicht, vor allem, wenn ihr stundenlang,
zehn oder zwölf Stunden pro Tag an eurer Dissertation sitzt,
vergesst nicht, zwischendurch ans Klavier zu gehen und zu spielen.
WR: Der Musik nachdenken und die Musik nachdenken, das sind ja
genau diese haarfeinen Trennungslinien. Ich meine, das eine ist:
Wie ist die Musik gemacht?, und das andere: Wie steht sie in der
Welt? Was aber ist jetzt Musikwissenschaft? Herauszufinden, wie
Musik gemacht ist, und daraus Schlüsse zu ziehen, wie sie gemacht
werden soll? Oder das Feststellen, wie sie in der Welt steht, wie
sie als Objekt wirkt? Oder ist das überhaupt trennbar?
RB: Wieso ist das trennbar? Du weißt, meine Arbeit über
Schönbergs Opus 11 beginnt ganz programmatisch mit einem
Zitat von Adorno: Der Gehalt von Kunst liege in ihrer Technik.
Und in der Tat, jeder Weg zum Gehalt führt über die
Technik. Daran halte ich heute noch fest.
WR: Also ist diese Trennung in Musiktheorie und Musikwissenschaft,
wie wir sie in Deutschland betreiben, ja eigentlich von Übel,
nicht?
RB: Ja, wie sie auch in Amerika sehr stark ist. In den USA gibt
es ja ein eigenes Fach Musiktheorie, ein eigenes akademisches
Fach, das also nicht nur Harmonielehre, Kontrapunkt betreibt,
sondern Theorie der Musik in einem ganz generellen Sinn. Aber
diese Trennung wird auch wieder aufgehoben werden, da bin ich
ziemlich sicher. Sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden
aus, ja, aus der Unangemessenheit der musikwissenschaftlichen
Analysen, da haben sich die Musiktheoretiker abgespalten und haben
ein eigenes Fach etabliert.
WR: Ich denke jetzt gerade an den Moment, wo der Rezipient in
Berührung mit musikalischer Analyse kommt: wenn er das Programmheft
im Sinfoniekonzert liest. Wobei ein eigentümliches Zweiverhalten
geschieht. Meistens sagt er: Ach, das will ich gar nicht wissen.
Im anderen Fall wenn das ein lebender Komponist über
seine Musik schreibt im Programmhefttext sagt er: Aha, da
steht wieder was drin, was dann mit dem, was ich höre, gar
nicht übereinstimmt. Also dieses Nicht-wissen-wollen und gleichzeitig
auch Feststellen, dass es mit der eigenen Erfahrung gar nicht übereinstimmt
ich weiß nicht, wo man da eine Brücke finden könnte.
RB: Davor steht schon die Frage, welchen Typ von Programmheftbeitrag
man schreibt. Du kannst nicht einen detaillierten analytischen
Befund in einem Programmheft wiedergeben. Erstens ist das für
die meisten Leser zu speziell. Zweitens ist das Lesen en detail
im Moment des Konzertbesuchs, fünf Minuten vor dem Beginn
der Musik und das ist noch die günstigste Situation
gar nicht möglich. Du musst also eine Metasprache
finden, die analytische Ergebnisse verarbeitet, aber auf eine
Ebene hebt, die man kommunizieren kann und die auch nachzuvollziehen
ist von Laien. Und das ist etwas, was wir auch, glaube ich, noch
lernen müssen. Ich habe das ja selbst in meinen eigenen Arbeiten
gespürt. Ich habe ja begonnen mit dieser Arbeit über
Schönbergs Opus 11, die du kennst, die eine in jedem Moment
analytische Arbeit ist. Da wird gebohrt um jeden Ton.
WR: Eine Werkmonografie.
Schreiben für den Laien
RB: Ja, eine Werkmonografie und sehr spezialisiert. Spricht
eine Sprache, die fast hermetisch ist. Und ich bin jetzt eigentlich
auf einem ganz anderen Weg: Ich möchte Bücher schreiben,
die auch von dem gebildeten Laien verstanden werden. Und da kann
ich nicht die volle musikalisch-analytische Terminologie ausbreiten.
WR: Gleichfalls ist sie aber notwendig, um die Ergebnisse vorzubringen.
RB: Sie ist notwendig, ja, aber man muss wahrscheinlich eine
Trennung machen. Ich kann meine analytischen Ergebnisse in einer
Fachzeitschrift veröffentlichen und kann dann ein Buch schreiben,
das darauf basiert, also bei dem Buch eine Stufe höher ansetzen
mit der Reflexion, wo also die analytischen Detailergebnisse bereits
verarbeitet sind zu mehr allgemeinen Thesen, und von da aus muss
man argumentieren. In dem Buch über Brahms, das immer noch
für ein Laienpublikum zu analytisch ist...
WR: Wirklich?
RB: Ja. Immer noch. Bei den Analysen müsste man auf einer
noch höheren Abstraktionsstufe ansetzen, also einen noch
höheren Allgemeinheitsgrad erreichen und von da argumentieren,
dann zu Thesen über Melancholie oder über die Zurücknahme
der Neunten Sinfonie übergehen und erst dann zu Kontext und
Geschichte kommen. Was man entwickeln muss, glaube ich, ist eine
Art hermeneutische Sprache, die diese analytischen Details in
sich aufnimmt, aber wie schöne Literatur formuliert ist
wir müssen faktisch bei den Poeten in die Lehre gehen und
einen quasi poetischen Text schreiben.
WR: Das Sprach-Problem ist an mehreren Punkten deiner Überlegungen
prominent aufgetaucht. Vorhin bei deiner Eigeneinschätzung,
dass das Schönberg-Buch in einer hermetischen Sprache geschrieben
ist, dann jetzt eben, dass die hermeneutische Sprache ein Desiderat
ist überhaupt für die Artikulation von Musik, und vorhin
auch schon mal, als es um die Form des Nach-außen-Tragens
von analytischen Ergebnissen ging. Ich glaube, das Sprachliche ist
etwas ganz Wichtiges, das Zur-Sprache-Bringen, das Versprachlichen
von Erkenntnis ist etwas ganz Wichtiges, was die Musikwissenschaft
leisten muss. Das heißt also, sie muss nicht nur diese Erkenntnisse
schürfen und hervorbringen, sondern sie muss sie auch in eine
Sprache bringen, die eben nicht nur verklausuliert diese Ergebnisse
mitteilt. Aber da ist doch ein großer Unterschied zur Wissenschaftsliteratur.
RB: Grundsätzlich muss man es können. Und ich möchte
im Grunde sozusagen auf zwei Straßen fahren und weiterhin
Bücher wie das über Opus 11 für das Fachpublikum
herausgeben oder eine Edition des Pierrot Lunaire,
die bis ins Detail in die Quellen eindringt und Dinge bringt,
die kein Laie lesen würde, aber die einfach für das
Aufbewahren, für das Katalogisieren der Werke und für
die Information, die man dazu braucht, getan werden müssen.
Das braucht nie wieder bearbeitet zu werden, wenn es gut gemacht
ist. Auf der anderen Seite möchte ich aber doch kommunizieren
mit einem größeren Publikum und das nicht nur in Nachtprogrammen
der Rundfunksender, sondern auch durchs Schreiben, mit einem Lesepub-likum.
Musikkritik
WR: Die Musikwissenschaft ist ja nicht Musikkritik. Das kritische
Wesen ist ihr als Wissenschaft eingegeben. Trotzdem: Sie ist keine
Musikkritik.
RB: Sie kann es sein.
WR: Wann wird Musikwissenschaft Musikkritik? Wo macht sie diesen
Schritt? Geht es nur über die Sprache oder...?
RB: Nein, das ist ja auch ein Punkt, der kontrovers ist und
der mir manchmal vorgeworfen wird; dass ich es wage, Werke zu
kritisieren.
WR: Zu werten.
RB: Zu werten, ein Werturteil zu fällen, also zu sagen,
Brahms 2. Sinfonie ist nicht so fröhlich wie...
WR: Aber das hat ja schon Brahms gesagt.
RB: Das hat Brahms indirekt gesagt, aber man muss seine Worte
ernst nehmen. Um dann zu schließen, die 2. Sinfonie zum
Beispiel habe ein vielleicht zu leichtes Finale gegenüber
dem bedeutenden Kopfsatz... und die Wertung beginnt.
WR: Das ist die Wertung, also das könnte die skandalöse
Wertung sein, dass du die Sätze 1 und 2 gegen die Sätze
3 und 4 höher wertest.
RB: Genau, das habe ich ja erfahren, dass mir das vorgeworfen
wird, vehement und mit wirklicher Überzeugung gesagt wird,
das ist alles falsch, denn so weit darf sich die Musikwissenschaft
nicht wagen. Aber gerade das halte ich für falsch. Dieses
kritische Urteil muss erlaubt sein.
WR: Das muss da sein.
RB: Wie auch, wie ich finde, und damit können wir vielleicht
eine neue Runde eröffnen, wie auch das ästhetische Urteil
gefällt werden muss vom Stand der Gegenwart aus, also wie
man nicht glauben darf, dass man die Vergangenheit rekonstruieren
kann, ohne sich auf die Gegenwart zu beziehen.
WR: Das ist auch wahrscheinlich der Grund, warum uns, wenn wir
zeitgenössische, ehemals zeitgenössische Äußerungen
über inzwischen klassische Werke lesen, diese uns so frisch
und frech vorkommen und wir als Nachwelt sie auch
manchmal belächeln, weil sie sich vor Wertung natürlich
nicht drücken. Also wenn wir aus der Brahms-Zeit kritische...
RB: Hanslick, der sagt, die Mittelsätze bei Brahms seien
zu leicht.
WR: Ja, ja, genau. Darauf wollte ich hinaus, dass da nämlich
ein Umgang mit den Dingen unter den Lebenden herrscht, der plötzlich
abzusterben scheint, wenn die Werke klassifiziert...
Heiligung der Werke
RB: Da steht noch mehr dahinter. Ich meine, diese Haltung, die
du jetzt beschreibst, dieses Glorifizieren, dieses Heiligsprechen
der Werke, und es ist ja merkwürdig, dass ein Komponist das
ablehnt, das ist ja auch ein Resultat einer Entwicklung des Hörens
im 19. Jahrhundert. Das ist ja ein relativ später Zustand,
der damit zu tun hat, dass man du kennst ja die Konzerthaussituation,
die Lichter gehen aus...
WR: Ja, und die Monstranz in Form des Werkes wird hereingebracht.
RB: Und vorne auf dem Altar, auf dem Podium wird es zelebriert.
Und in Stille und Ergebenheit hörst du zu. Aber das hat sich
ja jetzt in den letzten Jahren, Jahrzehnten durch die Medien ganz
entscheidend geändert. Diese spezifische Aufführungs-Situation
wird das ist meine Prognose nicht mehr lange bestehen.
In Boston gehen schon zur Aufführung die Lichter wieder an,
wofür es eine andere, schlimme Begründung gibt, nämlich
dass man die kommerziellen Anzeigen lesen soll und den Einführungs-Text,
den die Musikwissenschaftler verfasst haben. Und die virtuellen
Hörer sitzen da und lesen.
WR: Im Programmheft.
RB: Im Programmheft und hören nicht mehr zu. Aber das musikalische
Hören vollzieht sich heute ja anders als am Ende des 19.
Jahrhunderts, das heißt vor dem Aufkommen der Schallplatte.
Mehr und mehr werden die Gewohnheiten des Hörens von Schallplatten
und vor allem CDs in den Konzertsaal übertragen.
WR: Also dass man gleichzeitig eine andere Beschäftigung...
RB: Dass man eine zweite Beschäftigung hat. In Boston gehen
Leute aus dem Konzert heraus und kommen wieder herein nach drei
Minuten.
WR: Während des Stückes?
RB: Während des Stückes.
WR: Das ist ja wie im 18. Jahrhundert.
RB: Ja, noch im 19., wenn du Zeichnungen über Aufführungen,
Konzertaufführungen siehst, dann siehst du, dass die Leute
sich unterhalten während...
WR: Aber schau mal entschuldige, wenn ich dich unterbreche
, das kommt doch heute sicher auch vom Hören nur noch
von verstärkter Musik. Ein nicht elektronisch verstärktes
Pianissimowerk kannst du ja in so einer Atmosphäre gar nicht
präsentieren.
RB: Nein, das sind die zwei gefährlichen Punkte. Das eine
ist, dass Musik Stille braucht, um erfahren zu werden.
WR: Um zu sein.
RB: Ja. Aber auf der anderen Seite steht, dass dieses Heiligsprechen
der Werke eine Atmosphäre erzeugt, die dann auch gegen eine
rationale Aufnahme des Stückes, eine kritische Aufnahme,
die du ja gerade wolltest, gerichtet ist. Und...
WR: Du rührst an einen komplexen Punkt. Die gefährliche
Nähe von Pianissimo und Bedeutung, ja Heiligkeit...
Konzertverhalten
RB: Nehmen wir noch einen anderen Punkt. Zum Beispiel
lass uns wieder die 2. Sinfonie von Brahms nehmen, als die uraufgeführt
wurde in Wien im Musikvereinssaal, hatte sie großen Erfolg.
Es wurde nach jedem Satz geklatscht. Es wurde der dritte Satz...
WR: ...wiederholt.
RB: ...so begeistert gefeiert, dass er wiederholt werden musste.
WR: Weil er als Genrestück aufgefasst...
RB: Und Brahms saß unter den Zuhörern und es hat ihm
gefallen. Es ist ganz klar, die Wiederholung widerspricht eklatant
der Ästhetik des geschlossenen Werkes. Das ist unzweifelhaft
klar. Aber auf der anderen Seite ist es ein humanes Verhalten.
In der Oper hat der Zwischenapplaus ja überlebt, Gott sei
Dank. In der Nicht-Wagner-Oper. Im Wagnerschen Musikdrama
dagegen gibt es ja kein Klatschen nach den Nummern.
WR: Nicht möglich, das hat er verhindert: Alles ist durchkomponiert.
RB: Aber bei Verdi, bei Mozart ist das ganz selbstverständlich
und das ist auch eine Art von Befreiung des Hörens. Und vielleicht
sollten wir zu solchen Unbefangenheiten wieder zurückkehren.
WR: Aber diese Unbefangenheiten sind ja ihrerseits so wenig verordenbar,
wie ihr Verschwinden inszenierbar war. Du sprichst von humanem Verhalten.
Es ist sicher ein humanes Verhalten, es setzt aber auch eine bestimmte
Musik voraus, die sich in ihrer akustischen Erscheinung derart robust
zeigt. Ein Werk des späten Nono, Debussy oder auch selbst eines
der Mozartschen Orchesterwerke könnte man nicht bei raus-
und reingehendem Publikum in irgendeiner Weise adäquat darstellen.
RB: Nein, es gibt ja schon Werke, die man gar nicht als erste
in einem Konzert programmieren kann. Also wenn ich Weberns Orchesterstücke
op. 6 oder op. 10 als erste Werke hören soll, nachdem ich
soeben von draußen hereingekommen bin und noch den Lärm
im Ohr habe, dann ist dieser aufgespeicherte Lärm in meinem
Ohr lauter als das, was bei Webern vor sich geht.
WR: Wird aber oft gemacht, das zeitgenössische
Stück am Anfang und dann kommt das Klavierkonzert
und dann die Sinfonie.
RB: Nichts falscher als das. Die alten Pasticcio-Programme von
Konzerten mit einer lauten Ouvertüre am Anfang sind hervorragend.
WR: Hervorragend. Und dazwischen vielleicht ein Klavierstück,
warum nicht? Also diese Mischtypen.
RB: Ja, ich plädiere für diese Mischtypen. Wir haben
ja seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem durch
Karajan diese Tendenz und endlich Praxis des Programmierens von
nur zwei Werken. Wenn du die Zusammenstellung von Programmen vom
späten 18. Jahrhundert bis ins beginnende 20. verfolgst,
dann siehst du, wie nicht nur die Genres schrumpfen, die man in
einem großen öffentlichen Konzert vereint, sondern
auch die Zahl der kanonischen Werke. Nehmen wir die berühmte
Beethovensche Akademie, in der er die 5. und die 6. Sinfonie
und das 4. Klavierkonzert, ein Gloria und ein Sanctus, die Konzertarie
Ah! perfido und ganz am Ende die Chorfantasie
alles in einem Konzert ! aufgeführt hat. Das war ein
Konzert, das um sechs Uhr begann und nach zehn zu Ende ging, das
waren mehr als vier Stunden.
WR: Gut, und da braucht man natürlich Bewegung und braucht
auch sozialen Austausch.
RB: Ja, aber wenn man jetzt ein wenig zu diesem anderen Programmieren
zurückkommt, dann braucht man das auch wieder.
WR: Vorhin war ein interessanter Punkt: die Nähe von Pianissimo-Musik
und Heiligsprechung. Ich meine, ich habe eben den Namen Nono genannt,
ich könnte auch den Namen Feldman nennen. In der Gegenwart
spielt das natürlich eine große Rolle, dass ein dynamisches
Verhalten des Komponierens von der Rezeption sofort in eine Tempel-Atmosphäre
umgewertet wird. Wobei lediglich die adäquate Aufnahmeform
des ruhigen Lauschens angebracht wäre, wird der Schritt zum
Gebet plötzlich ganz kurz. Innerhalb des humanen Verhaltens,
das du vorhin angesprochen hast, hätte ja so ein Verhalten
gar keinen Platz. Du meintest das humane Verhalten jener Menschen
im Konzert, die auf Aktivität hin sich verhalten...
RB: Ja, da ist aber jeder Beifall eine Diskrepanz, auch der Beifall
nach dem Ende des Stückes. Beifall wäre hier gleich
vierfach-Fortissimo im Verhältnis zur erklungenen Musik,
wenn du Nono oder Feldman nimmst.
WR: Ja, geht mir aber auch so nach einer Brahms-Sinfonie. Stört
mich dann fast, nicht? Ich fände es toll, man könnte mit
Freunden darüber reden und, gut, dann aber...
RB: Aber da sitzen die Musiker...
WR: Ich weiß, die Spannung muss sich auch lösen dürfen.
Das Echo...
Neue Medien
RB: Diese Veränderung des Hörens durch die Medien
wir wollten ja noch einmal darauf zurückkommen: Es wird ja
heute im Grunde eine Art des Hörens praktiziert, die der
immanenten Ästhetik der gehörten Musik widerspricht.
Du bist allein zu Hause, du legst dir eine CD auf und hörst
eine Mahler-Sinfonie das ist nicht konform der ursprünglichen
Intention einer das große Publikum ansprechenden, Welt-haltigen
Sinfonie. Die ideale Hörsituation eines solchen großen
Orchesterwerkes ist ja ganz eindeutig ein kontemplatives Sich-Versenken
eines Einzelnen in das Hören, aber eines Einzelnen, der in
einer Menge sitzt, also ein kommunales Erlebnis hat, und gleichzeitig
eine rein individuelle Verbindung herstellt zu dem, was auf dem
Podium geschieht. Es ist also das sich öffentlich vereinzelnde
Individuum, das der Produktion der Musik durch das Orchester folgt,
dieses Individuum sitzt aber gleichzeitig in einer Schar von Gleichgesinnten.
WR: Ja, genau wie der Orchestermusiker seinerseits auch. Er bringt
die Musik mit Gleichgesinnten hervor, und die Hörer bringen
das Hören zusammen hervor.
RB: Die Hörer folgen aber trotzdem einer individuellen Linie,
die nicht über den Nachbarn, vielmehr direkt zu der Produktion
auf dem Podium geht. Das ist die Doppelstrategie des kontemplativen
Hörens im öffentlichen Konzertsaal. Und diese Situation
ist natürlich verkehrt, wenn du zu Hause sitzt und allein
die 9. Sinfonie hörst, Alle Menschen werden Brüder
dabei bist du allein. Das ist eine ganz wichtige ästhetische
Differenz. Der zweite Punkt ist, dass die Musik wieder funktionalisiert
wird. Wenn du hinausgehst und dir ein Glas Wein holen willst,
stoppst du die CD; du lässt sie weiterlaufen, wenn du zurück
bist du unterbrichst einfach, was du im Konzert nicht kannst.
WR: Aber ich empfinde das, was ich ja oft praktiziere genauso wie
du es beschreibst, als ein provisorisches Verhalten. Ich empfinde
das so, wie wenn ich einen Bildband angucke. Wenn ich einen Velázquez-Bildband
angucke, dann stehe ich eben nicht vor der Venus mit dem Spiegel,
sondern ich betrachte ein wie auch immer geartetes...
RB: Aber du betrachtest es als einen Ersatz.
WR: Ja, so empfinde ich das bei der CD auch.
RB: Bei der CD gegenüber dem Konzert.
WR: Ja. Es hat niemals auch diese physische Wucht, so laut ich
das auch stelle.
RB: Das ist völlig klar. Auf der anderen Seite aber wird
die primär mediale Erfahrung von Musik, das Hören nur
durch Lautsprecher (CD, Platte, Band, Radio), heute (immer noch?)
sehr negativ beurteilt. Es wird als Niedergang der Musikkultur
angeprangert. Natürlich ist die ästhetische Präsenz
einer Live-Erfahrung etwas Besonderes. Aber wir sollten auch sehen,
dass ständige Orchester selbst heute nicht flächendeckend
sind. Gleichzeitig ist es unzweifelhaft, dass niemals so viele
Menschen klassische Musik hören konnten und hören wie
zu unserer Zeit ermöglicht allein durch die elektronischen
Medien. Niedergang der klassischen Musikkultur
ich halte dieses Urteil für falsch. Im Gegenteil: Ich plädiere
dafür, dass man die Medien voll benutzt. Das ist zudem unsere
einzige Chance, sonst schlagen sie uns.
WR: Aber, genau, wie du sagst, die Medien voll benutzen,
aber sie nicht für die Wahrheit nehmen.
(Im folgenden großen Gesprächsabschnitt wurde über
Walter Benjamin, über die historische Musikwissenschaft,
über den Begriff des Kunstwerks, über adornitische Ästhetik,
über Konzerteinführungen und über den Naturbegriff
in der Kunst gesprochen.)
Stirbt die Musikkultur?
RB: Lass mich nun etwas anders fragen, lass mich den Komponisten
fragen. Vor einem halben Jahr etwa hat die New York Times-Redaktion
in mehreren Wochenendausgaben Artikel gebracht, die so etwas wie
ein Ende der klassischen Musikkultur prognostizierten. Unter der
Überschrift Is it curtains for Amadeus?, also:
Fällt der Vorhang über Amadeus? Wobei sie Amadeus durch
das Theater-Stück von Shaffer sehen und den bekannten Film,
das heißt als etwas marktschreierisches Pars pro toto begreifen.
Die Autoren haben nun die These verfochten, dass die Entwicklung,
die sich gegenwärtig in Amerika vollzieht, ein Ende dieser
florierenden musikalischen Kultur herbeiführt, unabwendbar
herbeiführen wird. Statistisches Material sind Untersuchungen,
die Sozialwissenschaftler durchgeführt haben, die auf empirischer
Basis belegen, dass in den letzten 20 Jahren die Zahl der Konzertbesucher
stetig und rapide zurückgegangen ist, der Verkauf an CDs
und Videos mit klassischer Musik erheblich geringer geworden ist,
dass auf der anderen Seite die Museen einen deutlich ansteigenden
Besuch verzeichnen und dass die Theater etwa in der Mitte liegen
mit leicht positiver Tendenz. Und bei der Musik, speziell in Amerika
und vor allem bei den Orchestern (die Oper kommt besser weg),
die ja auf privatem Sponsorship beruhen, ist es fatal, dass gerade
die 20- bis 40-Jährigen nicht mehr ins Konzert gehen, weil
das die künftigen Geldgeber sein könnten.
WR: Und sind das dann die, die ins Museum gehen?
RB: Das kann man schwer sagen, aber auf jeden Fall ist die Zahl
der 20- bis 40-Jährigen, die in ein Museum gehen, steigend,
stark steigend. Und das sieht man auch hier. Wir waren letzten
Sonntag in Berlin in der Nationalgalerie, die war überfüllt.
Selbst eine Ausstellung, die an sich gar nicht so spektakulär,
nicht einmal sehr gut ist einfach überfüllt.
WR: Das ist doch schön, das hätte man vor 30 Jahren auch
nicht gesagt. Da hat man gesagt: Niemand geht mehr ins Museum, lasst
sie uns schließen.
RB: Für einen Historiker ist die These, dass die klassische
Musikkultur zu Ende gehe, kein Schreck, keine Katastrophe. Wir
wissen, dass diese bürgerliche Musikkultur mit
ihrem Öffentlichkeitsprinzip und ihren vielfältigen
Organisationsformen und Institutionen im Laufe des 18. und frühen
19. Jahrhunderts in dieser Weise sich etabliert hat, und was vor
200 Jahren entstanden ist, kann auch wieder vergehen.
WR: Eben, das ist ganz normal.
RB: Wie sieht ein Komponist das? Wie steht es mit deinem Beruf?
Der meine wird bleiben, jedenfalls wird man sich noch für
eine lange Zeit mit der Vergangenheit dieser Musikkultur auseinander
setzen.
Man ist gerade dabei, die Anfänge jetzt richtig zu bearbeiten,
die Entwicklung des Konzertlebens in London im 18. Jahrhundert
zum Beispiel. Das ist für mein Fach ein großes Thema,
ein großer geschichtlicher Augenblick, das Werden der bürgerlichen
Musikkultur. Es wird lange dauern, bis man an die Bearbeitung
des Endes kommen wird. Aber was denkt ein Komponist, wenn er sieht,
dass seine Hörerschaft schwindet, dass insgesamt die Orchester
Probleme haben zu überleben?
WR: Also das, was du eben angesprochen hast, zeigt sich für
mich ja ganz anders. Ich sehe, je älter ich werde, dass meine
Hörerschaft nicht schwindet, sondern zunimmt.
RB: In absoluten Zahlen?
WR: In absoluten Zahlen. Was du eben gesagt hast, wenn es heißt
Fällt der Vorhang für Amadeus?, dann ist damit
natürlich auch eine kommerzielle Größe gemeint,
die klassische Musik als Wirtschaftsfaktor. Für die wird es
sicher schwierig, weil sie sich selbst ausgelaugt hat durch ständige
Repetition ihrer Gegenstände und durch Zerstörung ihrer
Ressourcen.
RB: Zu dem vorherigen Punkt noch: Du sagst, deine Hörerschaft
werde immer größer. Es hat ja nie so viele Hörer
gegeben, die klassische Musik hören, wie heute.
WR: Nie zuvor!
RB: Durch die elektronischen Medien, heute vor allem die CD.
Es wird angesichts des Bildungs-Anspruchs der bürgerlichen
Kultur meist vergessen, dass im 19. Jahrhundert die wenn
auch stetig wachsende Hörerschaft beschränkt
war auf eine relativ kleine privilegierte Gruppe in den Städten
mit stehenden Orchestern, daneben gab es den Ersatz des direkten
Hörens durch das Spielen oder das Hören von Bearbeitungen,
wobei natürlich vierhändige oder zweiklavierige Bearbeitungen
überwogen. Das hat sich durch die Reproduktionsmöglichkeiten
entscheidend geändert.
WR: Und trotzdem haben noch nie so viele Menschen zeitgenössische
Musik gehört, zeitgenössische Kunstmusik.
RB: Hier ist die zweite Frage, die ich in diesem Zusammenhang
stellen wollte. Liegt es nicht auch daran du hast schon
eben gesagt, sie haben ihre Ressourcen totgespielt rühren
die gegenwärtigen Probleme mit der klassischen Musik nicht
auch daher, dass die Orchester und Konzertmanager falsch entschieden
haben, wenn sie immer wieder Amadeus oder Ludwig programmierten
und nicht Arnold oder Wolfgang?
WR: Ja, aber die letzteren werden mehr und mehr programmiert.
RB: Zunehmend? Siehst du das so?
WR: Ich sehe es ja an meinen Aufführungsziffern. Ich meine,
das ist...
RB: Erreichst du das normale Konzertpublikum damit?
WR: Es wurde mir oft vorgeworfen am Anfang, dass meine Musik im
normalen Konzert aufgeführt werde und nicht bloß
in Spezialzirkeln. Also ich glaube, dass es immer auf den Standpunkt
ankommt. Diese von dir eben berichtete Artikelserie in der New
York Times kann ich mir gut vorstellen vor dem Hintergrund
einer wirtschaftsorientierten bangen Frage, wie lange sich damit
noch Geld machen lässt. Das ist das eine.
RB: Es sieht ja in den USA anders aus als in Deutschland. Diese
Orchester müssen ja ihre Unkosten selber einbringen, und
sie müssen Sponsoren finden. Und die Sponsoren fallen weg,
mehr und mehr, und die Hörer, die Zahlen der Konzertbesucher
werden geringer. Beides bringt natürlich die Existenz von
Orchestern in richtige Gefahr. Das ist anders als in Deutschland,
obwohl auch dort sogar die Spitzenorchester Probleme bekommen
haben, wie man an den öffentlichen Klagen der Berliner Philharmoniker
über das dramatische Zurückgehen der CD-Produktion sehen
kann. Ich meine, da wird irgendwann auch einmal die Frage kommen:
Wenn ihr nur noch museale Konzerte macht, wozu subventionieren
wir euch noch?
WR: Interessant ist, du hast gesagt: Nur noch museale Konzerte;
auf der anderen Seite sind die Museen offensichtlich vorbildlich
voll...
RB: Aber in der bildenden Kunst sind Picasso, Kandinsky, Klee
voll durchgesetzt. Max Ernst, selbst neuere Werke, gegenwärtige
Künstler haben Erfolge, Kiefer zum Beispiel wenn du
eine Kiefer-Ausstellung veranstaltest, dann strömen die Besucher.
Das ist nicht dasselbe in der Musik.
WR: Darf ich mal polemisch sagen, woran das hängt nach meinem
Gefühl? Das hängt am Objektcharakter der bildenden Kunst
und den damit verbundenen Wertdispositionen. Außerdem beträgt
die durchschnittliche Betrachtungsdauer eines Werkes der bildenden
Kunst nach Max Imdahl sieben Sekunden. Das ist für viele leichter
erreichbar als das Sitzen oder Durchhören von schon zwölf
Minuten Musik.
RB: Kant hat gesagt, der Musik mangele es an Urbanität.
Das ist...
WR: Natürlich, Musik ist pagan.
RB: Ich glaube, es hängt noch mit etwas anderem zusammen.
Es hängt sicher damit zusammen, dass diejenigen, die diese
Kulturbereiche beschicken, in der Musik schlecht gearbeitet haben.
WR: Sie haben abschreckend gearbeitet.
RB: Sie haben es zugelassen, dass die neue Musik erst einmal
draußen blieb.
WR: Aber immer unter Berufung auf die angeblichen Rezeptions-Schwierigkeiten,
die dadurch gefördert wurden.
RB: Natürlich. Aber während die Museumsleute eine Museumsdidaktik
entworfen haben, die darauf abzielte, jetzt die Leute dazu zu
erziehen, auch neuere Werke und Künstler, von Picasso bis
zu Baselitz, zu goutieren, hat ähnlich Fundiertes in der
Musik nicht stattgefunden und findet auch heute noch nicht statt,
zumindest in den USA ist es immer noch ein großes
Problem, wenn ein wirklich neues Werk aufgeführt wird: es
ist Unruhe im Saal, Leute gehen hinaus, hörbar hinaus, und
so weiter.
Und ich sehe da eine wirkliche Gefahr, für das Fortbestehen
der klassischen Musikkultur.
Marktwert Musik
WR: Das hängt zwar alles miteinander zusammen, aber die Überlebensfrage
der Orchester ich darf diese jetzt einmal ins zweite Glied
schieben. Das, was du eben sagtest, dass diejenigen, die die Musik
programmatisch präsentieren, schlecht gearbeitet haben, das
scheint mir der zentrale Punkt zu sein! Trotzdem kann man nicht
die ganze Schuld auf die Präsentationsform schieben, was ja
viele meiner Kollegen tun.
Ich möchte das nicht tun, einfach weil ich weiß, wie
diffizil die Verbindungen von der Sache selbst also der Musik
zu ihrer Präsentierbarkeit sind. Jemand, der vor einem
Bild steht und sich lautstark dagegen äußert, zerstört
es noch lange nicht. Aber im Konzert bewirkt schon ein Hustenanfall...
RB: Natürlich, natürlich ist Musik viel schwerer zu
vermitteln.
WR: Schon die Dauer, ich habs vorhin angesprochen. Aber auf
der anderen Seite, es gibt noch etwas, und ich habe das mit dem
Begriff des materiellen Wertes angesprochen. Du kannst Massen mehr
damit erreichen, wenn du ihnen sagst: Indem ihr das seht, seht ihr
etwas, was unbezahlbar ist. Außerdem gehören Bilder,
die ausgestellt werden, entweder sehr reichen Einzelnen oder einer
staatlichen Institution, die sie präsentiert und bereits durch
die Präsentationsweise wiederum deren Wert steigert.
RB: Aber das ist doch bei Musik nicht anders.
WR: Eben doch. Das Musikwerk gehört niemandem.
RB: Das Musikwerk nicht, aber es wird präsentiert, in Deutschland
durch ein staatlich bezahltes Orchester.
WR: Lass mich das weiter ausführen. Würde zum Beispiel
ein Orchesterwerk eines lebenden Komponisten einem wie auch immer
sehr reichen Menschen gehören, der sich in keiner Weise darum
zu scheren hat, was er damit einnimmt, und der sagt: gut, das Stück
wird jetzt die nächsten Monate ständig aufgeführt,
vergleichbar den Ausstellungen von Privatsammlungen, ja, da bliebe
dem Publikum dann gar keine andere Wahl, als dieses Stück zu
hören. Die Bildpräsentationen gehorchen einer dem Plebiszit
weitgehend entzogenen Strategie.
RB: Ja, das Plebiszit ist trotzdem da.
WR: Musik ist vom Plebiszit wesentlich abhängiger.
RB: Das ist keine Frage, ich sehe nur nicht, dass dieser reiche
Mensch einen Unterschied macht. Ob die Musik die Partitur ist
oder nicht, ob die Partitur in der Staatsbibliothek liegt oder
beim Komponisten oder bei einem Krösus, macht nicht...
WR: Nicht die Partitur, die kann man besitzen; das musikalische
Werk selber gehört niemandem.
RB: Das gehört niemandem, das ist klar. Aber derart diffizile
Überlegungen sind meist nicht der Gegenstand von Überlegungen
eines breiten Publikums.
WR: Aber sie stellen eine Aura her.
RB: Ja, das ist richtig.
WR: Wenn die Bevölkerung liest, ein Picasso, 50 Millionen
Dollar, aha, da hängen 100 Bilder Mensch man
zählt sie zusammen, das ist ja unvorstellbar, und er hat sie
alle selbst gemalt... das viele Geld...
RB: Aber ist das nicht zu einfach, wenn man einfach auf die finanzielle
Seite als Hauptgrund schließt?
WR: Natürlich wäre das zu einfach, klar.
Repertoire, Zeitgenössisches
RB: Es gibt doch bestimmte Fakten, die wir lass uns doch
einfach noch einmal damit anfangen: Wir sehen erstens, wie das
Repertoire geschrumpft ist.
WR: Ist es das wirklich?
RB: Oh ja. Wenn du dir heute anschaust, was noch gespielt wird
gegenüber dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Schrumpfung
ist nicht zu bezweifeln. Selbst von den Beethoven-Symphonien sind
es doch nur noch drei oder vier, die wirklich gespielt werden.
WR: Und trotzdem, wenn ich mir die Programme gerade der städtischen
Sinfoniekonzerte anschaue, bin ich oft erstaunt über die Vielfalt
des Repertoires. Vielleicht trifft es nur auf die großen Orchester
zu, die dadurch, dass sie ständig reisen, eben einen Typus
Werk bevorzugen müssen, der sich wunderbarerweise mit dem der
Mahlerschen Symphonie zu decken scheint. Die Mahlersche
Symphonie deckt einfach alles ab und deswegen kann man sie auf die
Reise mitnehmen. So, wie sie komponiert ist, die Mahlersche
Symphonie, ist sie nämlich ein Musikfest. Wenn du die Programme
eines Musikfestes Mitte des 19. Jahrhunderts anschaust Ouvertüre,
Vokalsatz, dann Sinfoniesatz, dann , im Grunde reflektiert
die Mahlersche Symphonie diesen...
RB: Diese Varietät, meinst du?
WR: Ja, diese Variabilität oder Varietät von einem Musikfestkonzert
und zwar als ein Werk. Und deswegen ist das ideal für ein Orchester,
das auf Tournee geht, damit hat es alles im Kasten.
RB: Ja, aber trotzdem, also gut, bei den großen Orchestern
vielleicht noch am ehesten, ist einfach die Zahl der Werke, die
gespielt werden, geschrumpft. Ich erinnere mich, dass ich erstaunt
war, als ich 1985 in die USA kam, wie viel mehr dort auch französisches
Repertoire gespielt wird als hier in Deutschland. Also die unbekannten
Chabriers und Faurés und all diese Werke, die im normalen
Konzert des BSO (Boston Symphony Orchestra) erklingen. Da war
wesentlich mehr im Repertoire. Das hat natürlich auch damit
zu tun, dass es auch aus politischen Gründen einen ganz starken
französischen Einfluss gab nach dem Ersten Weltkrieg.
WR: Charles Münch.
RB: Charles Münch und andere, auch Koussewitzky war ein
Vertreter des französischen Geschmacks. Aber ich sehe mehr
und mehr, wie das Repertoire kleiner wird. Und von Mahler werden
vor allem die 2. und die 3. gemacht wann wird mal die 6.
gespielt?
WR: Ja, eben, die hat eben nicht diesen Musikfestcharakter mit
Chorsatz und Lied dazwischen.
RB: Aber insgesamt sehe ich das mit großer Skepsis, also
zumindest von meiner Erfahrung drüben, mit der Sorge, dass
da doch eine Ära zu Ende geht. Du bist sehr viel optimistischer,
weil du bei deinen eigenen Stücken eine steigende...
WR: Gut, ich kann mich nicht selber zum Maßstab machen, aber
du hast mich vorhin gefragt, wie ich selbst das erlebe als Komponist.
Selbstverständlich sehe ich, dass eine Haltung sich verändert,
eine Haltung, die einen Wertekanon voraussetzt. Das kann ich aber
nicht unbedingt immer nur bedauern. Das hat sich ja öfter geändert.
RB: Aber wenn es die Präsentation deiner Musik tangiert,
dann...
WR: Das tut es ja, sicher tut es das, natürlich. Aber ich
kann mich doch nicht hinter Wertekanons verstecken, die folgerichtig
zu mir führen!
RB: Mir ist in Berlin aufgefallen, dass Leute buhten bei den
Berg-Orchesterstücken, weil sie ihnen zu kompliziert waren
und sie sind ja auch kompliziert aber das Philharmonie-Publikum,
selbst wenn Abbado dirigiert, buhte auch nach einer Uraufführung
von Kurtág.
WR: Na ja, das ist ja immer sehr relativ.
RB: Das normale philharmonische Konzertpublikum. Hat man versäumt,
es rechtzeitig vorzubereiten, wenn denn der Ausdruck erlaubt ist:
es zu erziehen?
WR: Zur Kunst erziehen? Ich bin skeptisch. Nur Anschauung
lehrt. Gut, da sitzen 2.000 Leute und vier benehmen sich rüpelhaft,
die hört man. Die Nachdenklichen hört man nicht.
RB: Das scheint mir zu optimistisch. Es waren mehr als vier.
WR: Ja, zwölf. Es sind sowieso immer dieselben...
RB: Mehr, die sich laut artikulieren, und die große Menge
ist apathisch und lässt es über sich ergehen und ein
paar sind es nur, die richtig applaudieren. Insgesamt finde ich,
dass auch die Orchester seit vielen Jahrzehnten versagt haben
in Bezug auf die zeitgenössische Musik, die haben ihre Schuld.
WR: Ich möchte mich nur zu gern deinem Pessimismus anschließen,
nur, ich finde das auf die Dauer unproduktiv für mich selbst,
weißt du? Natürlich kann ich resigniert dasitzen, oh,
es werden von Beethovens Symphonien nur noch die und die gespielt.
Ich kann ja auch froh sein, kann sagen...
RB: Von dir werden Stücke nicht ein zweites Mal gespielt?
WR: Ja, oder nicht ein drittes Mal, denn zum zweiten Mal werden
sie inzwischen gespielt. Und da ist man ja schon privilegiert, nicht?
Man kann aber auch so sagen: Es gab ja Zeiten, da wurden zeitgenössische
Stücke auch nur einmal gespielt, nämlich bei Bach.
RB: Nicht ganz. Er hat sie ja immer wieder recycelt.
WR: Eben drum.
RB: Das war aber auch eine andere Situation, das war Musik,
die war für eine bestimmte Funktion geschrieben, eine Kantate
für einen bestimmten Sonntag, die konnte er im nächsten
Jahr am selben Sonntag wieder verwenden.
WR: Na ja, du kannst polemisch sagen, Orchesterstücke von
zwölf Minuten Dauer sind auch für eine bestimmte Situation
geschrieben, nämlich als Einleitungsstücke in ein Sinfoniekonzertprogramm.
Die sind auch funktional.
RB: Ja, wie es ja die alte Sinfonie war. Die alte Sinfonie war
ja auch eine Ouvertüre.
WR: Ja, und das zeitgenössische Stück im Programm der
60er-, 70er-, 80er-Jahre ist ja nichts anderes als dieses Ouvertürenstück.
Da kannst du die ganze Produktion von Stücken dieser Dauer
auf diese eine soziale Funktion hin beziehen.