RB: Vorhin wollte ich eigentlich nur ganz simpel fragen, was
kann man tun.
WR: Was man tun kann im Bereich der Musik? Aufführen!
RB: Aufführen, ja.
WR: Alles andere, was...
RB: Also kein Konzert geschehen lassen ohne ein neues Stück.
Es zur Selbstverständlichkeit werden lassen, dass das Neue
wie selbstverständlich gespielt wird.
WR: Ja, alles andere sind Krücken.
RB: Das Schlimmste waren und sind eigentlich diese Enklaven,
diese Musica Nova, wie das früher hieß, oder neue Musikkonzerte.
WR: Wobei ich etwas schätze: monografische Konzerte,
wo Werke eines Komponisten gespielt werden. Das schätze ich
gelegentlich im klassischen Bereich wie auch im neuen Bereich. Aber
ansonsten doch lieber: Mischung und Vielfalt!
Keine Angst vor der Moderne
RB: Und ich würde mir von den großen Interpreten
mehr Offenheit für neuere Stücke erwarten.
WR: Ja, wann ist ein Interpret groß? Doch eigentlich, wenn
er die Vielfalt der Möglichkeiten in sich trägt.
RB: Für mich ist Alfred Brendel ein bedeutender, ein großer
Pianist. Aber er ist ein Musiker, der das 20. Jahrhundert total
meidet.
WR: Aber es kennt, wie kaum ein anderer.
RB: Das weiß ich, das ist das Schlimme dabei. Einer, der
diese Werke spielen könnte, der es aber nicht tut. Auch Pollini
hat eine Phase gehabt, wo er sich für ein paar neue Stücke
interessiert hat, er hat sie gespielt, er spielt immer dieselben
von Zeit zu Zeit noch einmal, es ist nichts Neues in den letzten
zehn Jahren dazugekommen. Und das sehe ich mit sehr kritischen
Augen. Dagegen habe ich sehr positiv reagiert, als Anne-Sophie
Mutter sich entschloss, eine ganze Saison hindurch nur Werke des
20. Jahrhunderts zu spielen, was immer man , wie immer man
zu den einzelnen Komponisten dann steht, zu dem, was sie ausgewählt
hat. Ob es unbedingt Pärt sein muss, ob Tzigane
von Ravel dazugehört oder nicht. Aber es ist gleich, es war
auch ein Signal an das Publikum: Ich bekenne mich zur Kunst des
20. Jahrhunderts. Und das Publikum hat diese Botschaft voll angenommen.
Die Säle waren ausverkauft in den USA. Da ist noch ganz viel
zu machen.
WR: Das heißt, die Schwerkraft, die ein wirklich großer
Interpret hat: diese in die Waagschale zu werfen, das
ist seine moralische Verpflichtung. Es nicht zu tun, kann nicht
nur mit Vorsicht begründet werden. Das ist ein weites Feld.
Ich kann mir jetzt nicht anmaßen, die Seele und die psychophysische
Lage eines Interpreten...
RB: Aber ich kann es einfach sagen. Ich kann sagen, dass bei
bestimmten, wirklich bedeutenden Künstlern ein Defizit vorhanden
ist, von denen ich erwarten würde, dass sie es ausfüllten.
Und von denen ich auch erwarten würde, dass es ihnen Freude
und Genugtuung bringen müsste, wenn sie nicht immer wieder
dieselbe Appassionata spielten und dieselbe späte B-Dur-Klaviersonate,
so schön sie es tun und so wunderbare Musik das ist. Aber
warum kann Brendel nicht Rihm oder Stockhausen oder...
WR: Was er könnte!
RB: Was er natürlich könnte.
WR: Trotzdem er tuts halt nicht...
RB: Was noch? Aufführen, aufführen, das ist wahrscheinlich
das Entscheidende.
(Es folgte ein längerer Gesprächsabschnitt über
Musikethnologie und über Methoden der Musikwissenschaft.)
Selbsterforschung
WR: Welche Rolle spielt denn innerhalb der Musikwissenschaft das
Erforschen bereits begangener Forschungswege, bereits geleisteter
Forschungsarbeit?
RB: Das ist ein Thema, das im Moment sehr bedeutend geworden
ist. Also es hat immer Interesse gegeben, in unserem Fach jedenfalls,
an der Geschichte des Faches selbst und an den Methoden. Aber
es ist gerade jetzt ein starkes Bedürfnis zu spüren,
die Geschichte des Faches selbst aufzuarbeiten. Im Augenblick
gilt das vor allem in Bezug aufs Mittelalter und, wie du weißt,
auch auf die jüngste Vergangenheit in der Nazizeit und deren
Vorbereitung und Weiterwirken. Da wird sehr viel geforscht. Und
das ist natürlich auch außerordentlich wichtig für
den Gebrauch der Sekundärliteratur, die wir benutzen. Wir
haben ja jahrelang, jahrzehntelang das Handbuch von Besseler über
die Musik des Mittelalters und der Renaissance als eine Art Textbuch,
als eine Art Lehrbuch betrachtet, ohne darauf zu reflektieren,
wie ideologisch vorbelastet die Darstellungen dort sind ist. Oder
es gibt jetzt diese Arbeiten über Jacques Handschin, über
dessen theoretischen Entwurf Der Toncharakter... Das
sind sehr wichtige Dinge. Und wir müssen jetzt dazu kommen,
den nächsten Schritt zu gehen und die Phase untersuchen,
in der wir selber begonnen haben.
Ein garstig Lied!
WR: Das wäre die deutsche Musikwissenschaft nach dem Zweiten
Weltkrieg. Mich interessiert zunächst jedoch die unmittelbar
vorgehende Phase, nämlich die deutsche Musikwissenschaft im
Dritten Reich sowie generell das Thema Musikwissenschaftliche
Programmatik und nationalsozialistische Ideologie.
RB: Lass mich die Programmatik zuerst ansprechen. Obenan steht
die emphatisch-nationale Orientierung. Es ist bezeichnend, dass
in der Festschrift, die Hitler im Jahr 1939 von der gesamten deutschen
Wissenschaft zum 50. Geburtstag als Verpflichtungserklärung
überreicht wurde, das Fach Deutsche Musikwissenschaft
hieß. Und der einzige für die Festschrift ausersehene
Vertreter dieses Faches, Friedrich Blume, Ordinarius an der Universität
Kiel, handelte in seinem Beitrag denn auch ausschließlich
von deutscher Musikgeschichte. Einer Musikforschung, die es mit
ihren Pflichten gegenüber Volk und Staat ernst nehme,
sei so Blume die nationale Ausrichtung ihrer Arbeit
vorgezeichnet. Das Erbe der deutschen Musik diktiert seinen
Auftrag, schreibt Blume, wobei die Formulierung eine gleichsam
gesetzgebende überindividuelle Instanz beruft. Aber Blume
bescheidet sich nicht mit dem Nationalen als primärer Bestimmung.
Er beruft eine nationalsozialistische Musikwissenschaft,
die von der Lebensmitte der deutschen Musik ausgehe
und deren höchste aktuelle Aufgabe es sei, die Fundamente
für das Gebäude einer musikalischen Rassenforschung
zu errichten. Und nur in diesem Zusammenhang der so genannten
Rassenforschung hält Blume es für nötig, auch die
Musik außerdeutscher und außereuropäischer Völker
(dies seine Ausdrücke!) zu behandeln.
WR: War die Gleichschaltung bereits so weit durchgeführt,
dass Blumes Position als die allgemeine gelten konnte?
RB: Das war in der Tat ein offizielles Programm. Und die nationale
Begrenzung bereitete sich bereits in den 20er-Jahren vor. Allerdings
war der musikwissenschaftliche Alltag während des Dritten
Reichs keineswegs überall so einseitig festgetrimmt. Aber
es kann keine Frage sein, dass die deutsche Musikwissenschaft
sich in ihrer Mehrheit selbst gleichgeschaltet hatte, von den
mehr opportunistischen Mitläufern bis hin zu den Überzeugungstätern.
WR: Geschah dies von Anfang an unter antisemitischer Prägung
und wie hat sich der Antisemitismus dann später auf das Fach
Musikwissenschaft ausgewirkt?
RB: Zunächst hat bereits der allgemeine Antisemitismus
vor der Nazi-Herrschaft in Deutschland sich durch die Hochschulpolitik
der deutschen Regierungen und die Diskriminierung der jüdischen
Forscher negativ auf die Berufsmöglichkeiten, insbesondere
die Wahl der Hochschullaufbahn, ausgewirkt. Dann griff der Antisemitismus
militant in das Leben jüdischer Forscher ein und erzwang
die Emigration hervorragender Wissenschaftler, die als Juden,
aber auch wegen ihrer politischen Überzeugung emigrieren
mussten. In dem Sammelband Driven into Paradise, den
Christoph Wolff und ich zur Musikemigration in die USA herausgegeben
haben, werden etwa 140 Musikwissenschaftler (im weiteren
Sinn) genannt, die wegen der Naziherrschaft Zentraleuropa, vor
allem Deutschland und Österreich, verlassen mussten. Das
war bei diesem kleinen Fach ein sehr großer Exodus und zugleich
ein außerordentlicher Qualitätsverlust. Man denke nur
stellvertretend an Namen wie Erich von Hornbostel und Curt Sachs
für die vergleichende Musikwissenschaft, dann
an die Musikhistoriker Alfred Einstein, Manfred Bukofzer, Otto
Gombosi, Willi Apel, Leo Schrade, Egon Wellesz, Dragan Plamenac...
Der Exodus bedeutete aber auch, dass nun die Regimetreuen an die
Stelle der Exilierten traten, dass die Falschen habilitiert wurden,
ein Vorgang, dessen Konsequenzen bis weit in die Nachkriegssituation
hinein reichten.
WR: In diesen Nachkriegsjahrzehnten findet man weitgehend die
alten Namen an den alten Stellen.
RB: Ja, nach den so genannten Entnazifizierungen überlebten
die Hauptfiguren der musikwissenschaftlichen Szene des Dritten
Reichs wiederum als Hauptfiguren in neuer Geltung auch nach dem
Zweiten Weltkrieg. Es war der kleine Schritt vom Lebensraum
zum völkischen Lebensraum, der im Falle Heinrich
Besselers aus der Weimarer Republik in den Nazi-Staat führen
konnte. Und zwölf Jahre später, als der Spuk vorbei
zu sein schien, genügte ein Verschweigen der kompromittierenden
Schriften und Fakten in den bereinigten Neuauflagen der Lexika
sowie die grundsätzliche Solidarität der alten Kämpfer,
um gar nicht erst einen Überzeugungsumzug tätigen zu
müssen. Der Übergang in die demokratischen
Wissenschafts-Republiken war bruchlos, in West (stellvertretend:
Friedrich Blume, Karl Gustav Fellerer, Wolfgang Bötticher...)
wie Ost (Karl Laux, Heinrich Besseler...). Und natürlich
half die Unterstützung der internationalen Fachkollegen.
So konnte Friedrich Blume, der, wie gesehen, als Chefideologe
einer nationalsozialistischen Musikwissenschaft agierte
und auf der parallel zur infamen Ausstellung Entartete Musik
(Düsseldorf 1938) stattfindenden Tagung über das von
Goebbels gewünschte Thema Musik und Rasse das
Hauptreferat hielt Friedrich Blume war es, der die bundesdeutsche
Musikwissenschaftsorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg aufbaute
und selbstverständlich deren mächtigster Mann wurde
Präsident der Gesellschaft für Musikforschung
von 1946 bis 1962 (sowie Präsident der Internationalen
Gesellschaft für Musikwissenschaft von 1958 bis 1961).
Und natürlich funktionierte über die Grenzen der Staatssysteme
hinweg die Verbindung zum alten Kameraden Karl Laux, der jetzt
in der DDR-Volkskammer sein neues sozia-listisches Credo zur Schau
stellte.
Aber ich schulde dir noch den zweiten Punkt der Auswirkungen
des Antisemitismus für die Musikwissenschaft in Nazi-Deutschland.
Er betrifft die Wahl der Gegenstände in Forschung und Lehre.
Wie man weiß, gab es hier grundsätzlich keine Freiheit
der Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers. Die Verbannung
der jüdischen Komponisten, ihre Eliminierung aus der Geschichte
der Musik verzerrte jede historische Darstellung.
WR: Und die verbleibende Geschichte wurde durch die
nationalsozialisti-sche Rechtschreibung verschrieben.
RB: Ja, und diese Ideologisierung traf Gegenwart wie Geschichte,
die Darstellung der Moderne wie die der Tradition. So Heinrich
Besseler wohl die größte Begabung der deutschen
Musikwissenschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts und zu Zeiten
des hier angesprochenen Essays bereits Professor in Heidelberg
, Besseler lässt in seinem Essay Schiller und
die musikalische Klassik von 1934 die deutsche Musikgeschichte
seit der Wiener Klassik im Erscheinen Adolf Hitlers kulminieren.
Hitler habe das individualistische Denken der Klassiker (Schillers
Prinzipien einer ästhetischen Erziehung des Einzelnen, Beethovens
Kammermusik) durch die Macht des Kollektiven widerlegt und baue
den Staat aus einem völkischen Lebensraum heraus
neu auf dieser politischen Tat habe die Kultur zu folgen.
Der Primat der Politik gilt für beide Eckpunkte: die Verdammung
der Moderne und die Neu-Interpretation der Tradition, wie sie
Arnold Schering, der Berliner Ordinarius, ebenfalls 1934 vorgeführt
hat in der Zeitschrift für Musikwissenschaft,
einem (bis dahin) wissenschaftlichen Journal: Die 5. Symphonie
Beethovens, verkündet Schering, sei zu verstehen als Symphonie
der nationalen Erhebung, dann werde die Durch-Nacht-zum-Sieg-Struktur,
umgedeutet in das Bild des Existenzkampfes eines Volkes, das
einen Führer sucht und findet, sich in ein Sinnbild
verwandeln, das gerade den Deutschen in hellem Glanz entgegenleuchte.
So wird die Tradition ideologisiert. Eine Darstellung der nationalsozialistischen
Benutzung der großen bürgerlichen Tradition ist ein
Desideratum, vor allem ist die Frage, was an dieser Tradition
sich einer solchen Benutzung anbietet oder doch nicht verschließt,
noch gar nicht gestellt.
Neutral methodologisch gefasst, gehört das alles (also
auch die Frage, ob bestimmte Werke aufgrund ihrer Kompositionsart
für eine ideologische Interpretation nazistischer Prägung
besonders anfällig scheinen) in den Bereich der Rezeptionsforschung,
einer Methode, die in den letzten Jahrzehnten die Szene beherrschte
und, richtig angewandt, immer noch neue Räume aufschließt.
(Man ging dazu über, ausführlich über einzelne
Komponisten und ihre kompositorischen Besonderheiten zu sprechen:
unter anderem zu Brahms, Strauss, Mahler, Pfitzner, Sibelius,
die Wiener Schule, Zemlinsky, Schreker, Tschaikowsky, Debussy,
Ravel.)
Zeuge in eigener Sache?
WR: Was sollte die Musikwissenschaft mit der Selbstauskunft von
Künstlern anfangen, wenn diese lautet: ein Werk sei ganz der
Intuition verdankt, sei einer Eingebung zufolge entstanden, sei
eventuell sogar einem Traum geschuldet. Wie geht der Musikwissenschaftler
mit so einer Aussage um? Führt er den Nachweis, das sei so,
oder tritt er den Gegenbeweis an?
RB: Er tut beides. Er ignoriert völlig, was der Komponist
gesagt hat, und er nimmt es ganz ernst. Und er ignoriert es, um
seinen eigenen Zugang zu dem Stück zu finden und lässt
das Stück sprechen in der analytischen Arbeit und er nimmt
es ganz ernst, indem er analytische Kategorien in einer Art Versuchsanordnung
dem Stück appliziert, auf das Stück anwendet und he-rauszufinden
versucht, ob es eine sinnvolle Perspektive eröffnet; und
er wiederholt diese Prozedur mehrere Male mit neuen Kategorien,
neuen Versuchsanordnungen und hoffentlich einem neuen, ergänzenden
Ergebnis. (Übrigens gehört diese Beschreibung eines
analytischen Vorgehens in den Zusammenhang unseres Gesprächs
über werkimmanente Interpretation und musikalische Analyse!)
Nun kann es ja natürlich ganz konkrete Angaben von Seiten
eines Komponisten geben. Es kann dieser Traum spezifiziert werden
oder es kann eine allgemeine Einfallstheorie à la Pfitzner
ins Spiel gebracht werden, und von daher ergeben sich durchaus
verschiedene Reaktionen.
WR: Im Grunde geht also der Musikwissenschaftler so damit um,
als hätte der Komponist das Gegenteil behauptet; aber auch
bei der gegenteiligen Behauptung muss ja ein Nachweis geführt
werden. Denn wie oft wird zum Beispiel behauptet, ein Werk verdanke
sich einzig und allein einer stringenten Versuchsanordnung systematisierter
Art: Leider sind alle Töne, so wie sie dastehen, nicht
von mir erfunden, sondern das System hat es gemacht. Tut mir leid,
bin nicht verantwortlich, das System wars. Das muss ja auch
nachgewiesen werden.
RB: Natürlich.
WR: Nur ist es im Falle des Hinweises, etwas verdanke sich spontaner
Intuition und es verdanke sich dem Traum, stelle ich mir vor, schwieriger,
weil das ja in einen Bereich verweist, der mit den Mitteln des wissenschaftlichen
Vorgehens nicht so leicht zu erreichen ist wie im anderen Fall,
wo ja schon auf Systematisierung also bereits quasi-wissenschaftliches
Vorgehen hin abgezielt ist.
RB: Das ist richtig. Aber wir haben ja über ein konkretes
Beispiel diskutiert, eine Passage aus dem zweiten deiner Hölderlin-Fragmente,
wo ich die Meinung vertreten habe, ein bestimmter Akkord stamme
aus dem Arsenal von Webern, aus einer ganz bestimmten Komposition
und stehe in einer ebenso bestimmten Rezeptions-Konstellation.
Deine Antwort war, dieser Bezug sei Dir nicht bewusst gewesen
beim Akt des Komponierens.
WR: Gut. Aber ich habe weder den Anspruch des Geträumthabens
noch den des systematischen Kunstmachens vorgetragen. Das ist ja
auch oft die Frage des Laien, wenn er an eine musikwissenschaftliche
Auskunft gerät: Ja, hat denn Mozart das wirklich so gedacht?
Was Sie da alles rausfinden, ist das wirklich vom Komponisten so
gemeint?
RB: Natürlich. Und das ist das Prob-lem gerade beim Laienpublikum,
aber eigentlich auch bei professionellen Musikern, bei ausgebildeten
Musikern, dass sie dieses Misstrauen haben gegenüber einer
Rationalität, die zu weit in den emotionalen, sonst für
das Emotionale reservierten Bereich eindringt. Es gibt ja die
These von Helmut Plessner, dass die Situation der Künste
im 20. Jahrhundert und das schließt die anderen Künste
neben der Musik mit ein dadurch gekennzeichnet sei, dass
immer mehr Segmente aus dem traditionell als Emotion, als unbewusst
deklarierten Bereich, der einst eine Domäne der Künste
war, der Rationalität unterworfen wurden und werden und dass
dieses Unbewusste, das in einer früheren Phase der Künste
auch das Dunkle genannt wurde, in seiner paradigmatischen Geltung
immer mehr schrumpft.
Verdächtiger Zug zum System
WR: Warum eigentlich? Durch Beweisnot? Durch die apologetische
Situation, in die die Kunst gerät? Denn oft steht beim ästhetischen
Neuansatz, auch zum Beispiel bei Schönberg, das Vertrauen auf
die der Logik nicht zugänglichen Wurzeln der Logik, der musikalischen
Logik. Schönberg beharrt ja gerade in der Zeit zwischen 1905
und 1912 auf der Intuition als Agens musikalischer Logik.
RB: Ja (Ernst Blochs nur scheinbar widersprüchliche Kategorie
einer Expressionslogik!), und Logik ist für ihn,
diejenige Möglichkeit zu wählen, die sich gerade nicht
aus der mathematischen Ableitung ergibt.
WR: Ja, im Falle von Musik.
RB: Im Falle bildender Kunst ähnlich.
WR: Und wie kommt es aber dann wieder zu dieser Konsolidierung
in Systemfindungen? Das muss doch durch den Zwang zur Apologie,
durch das ständige Dem-Vorwurf-ausgesetzt-Sein provoziert worden
sein: das, was du machst, sei in keiner Weise nachweisbar, es sei
leer, hohl, unbegründbar, nichts.
RB: Aber die Situation, die du jetzt beschreibst, ergab sich
um 1910 und bis in die frühen 20er-Jahre. Hier war doch das
Problem der Verlust eines Regel gebenden Systems. Zumindest in
der schöpferischen Erfahrung der Komponisten gab es eine
Diskrepanz zwischen der Selbsterfahrung und dem, was in Bezug
auf Tradition und Ausbildung verantwortlich gesagt werden konnte,
jener Ton, jener Klang sitze dort richtig, weil x=y.
Eine solche Aussage schien um 1910 nicht mehr möglich.
WR: Ja. War es denn vorher möglich?
RB: Zumindest in einem annähernden Zugang, ja. Im Zusammenspiel
von Kontrapunkt, Harmonie und Syntax gibt es Regeln, die man befolgen
kann. Da kann man, um Goethes schönes Wortspiel zu bemühen,
nicht gegen den Generalbass schlegeln. Und Schönberg
Egon Wellesz berichtet, dass Schönberg eine Vorstellung aus
der Malerei benutze, um diese Situation zu umschreiben ,
er sagte: Ich hatte meiner Hand zu trauen. Also der Intuition
im Grunde. Da gab es keine Regeln mehr. Und dieser Wunsch nach
Regeln, nach einer Absicherung der Fantasie, brachte die Zwölftontechnik
hervor.
WR: Aber der Wunsch nach Regeln, warum? Wessen Wunsch?
Warum muss dieser Wunsch nach Regeln einsetzen, wo schon die freie
Gestaltung, die Unabhängigkeit von Vorgaben, von Regeln, erreicht
ist?
RB: Noch mehr. Wo dann die Regel im Grunde keine Regel mehr
ist, sondern beliebig manipuliert werden kann. Deswegen scheint
mir, dass die Nutzung der Zwölftontechnik für Schönberg
anders als bei Webern mehr ein psychologischer Faktor
war, der Sicherheit gab, Sicherheit zu geben schien, eine Scheinsicherheit.
Und Schönberg hat dann auch wieder mit Themen und Themenstrukturen
komponiert, mit Vordersätzen, Nachsätzen, all den Dingen,
die vorher eigentlich vergangen schienen.
WR: Es gab also ein Gesetz, auf das als Instanz verwiesen werden
konnte, obwohl es ein selbst gesetztes Gesetz war. Jetzt aber zurück
zu Plessner, der ja feststellt, dass genau diese Entwicklung in
immer weitere, dem Unbewussten wie es scheint entzogene
Gestaltungsbereiche für die Künste insgesamt charakteristisch
sei. Heißt das nun, dass mit Freiheit nicht fertiggeworden
werden konnte, dass die Freiheit einfach nicht ausgehalten wurde?
RB: Nehmen wir noch einmal die Zwölftontechnik als Beispiel.
Wenn man sie ernst nahm, wie Adorno sie genommen hat in der Philosophie
der neuen Musik, konnte man neue Vorstellungen wie komplementäre
Harmonik in die musikalische Theorie einbringen. Man ist im Zwölftonbereich
frei, sagen wir, bis in den zehnten Ton. Dann hast du noch eine
Wahlmöglichkeit von zweien, aber den zwölften musst
du setzen. In diesem Sinne war diese Zwangssituation, glaube ich,
verstanden worden.
WR: Aber das ist eine sehr naive...
RB: Das ist ein privates Mythologem. Man muss allerdings auch
sehen, dass dieser Satz von Plessner zu einer Zeit geschrieben
wurde, da der Serialismus in der Musik vorherrschte.
WR: Ja, wann hat er das gesagt?
RB: Mitte der 60er-Jahre. Und das Aufbrechen dieser Dinge, das
Auftreten von Cage und so weiter, war noch nicht ins allgemeine
Bewusstsein gedrungen.
WR: Jetzt ist natürlich Cage nicht unter dem Gesichtspunkt
einer systemlosen Freiheit der Setzung zu denken, sondern eher vor
dem Hintergrund eines Es wird, wie es wird, wodurch
das Subjekt als Setzendes ja auch entlastet ist. Es ist ähnlich
entlastet wie bei einer Zwölftonkomposition, wo ja das Sys-tem
, oder bei einer seriellen Komposition, wo auch das System
die Verantwortung zu übernehmen scheint.
RB: Aber es in Wirklichkeit doch gar nicht tut. Und deswegen
musste Adorno die Kategorie der Lossage vom Material einführen,
um überhaupt darstellen zu können, mit welcher Freiheit
der Komponist trotzdem mit diesen Dingen umging.
WR: Worauf ich hinaus will: das ist der Verantwortungsbegriff.
Wo setzt Verantwortung ein? Wenn wirklich der Komponist für
jeden Ton verantwortlich ist oder erst dann, wenn ein vom Komponisten
akzeptiertes Gesetz für die Töne verantwortlich ist?
RB: Ist das ein Unterschied?
WR: Ja. Für mich, ja. Im einen Fall, nämlich im zweiten,
delegiere ich die Verantwortung an eine Mechanik, die mich fein
raus sein lässt, wenn ich gefragt werde, wo kommt der Ton her.
RB: Aber das ist doch eine Täuschung.
WR: Natürlich ist das eine Täuschung. Darin besteht
ja der Unterschied. Denn im ersten Fall bin ich wirklich verantwortlich
für den Ton, den ich setze.
RB: Im zweiten auch.
WR: Im zweiten Fall aber vermittelt. Da kann ich, wenn die Tonpolizei
kommt und anklopft und fragt: Wo kommt Ton 14 her?,
sagen: Der wurde mir vom Gesetz vorgeschrieben. Im ersten
Fall bin ich selbst der Täter, also schuldig. Positiv ausgedrückt:
verantwortlich. Als Komponist bin ich beim Prozess sowieso immer
Herr K.
Musik ist Freiheit
RB: Eine andere Frage. Du hast den Begriff der Freiheit sehr
ins Zentrum deines musikalischen Denkens gestellt, zumindest in
deinen Schriften aus der früheren Zeit. Was bedeutet Freiheit
für dich? Wenn du schreibst, diese Komposition ist die Realisation
von Freiheit, wo taucht diese Freiheit auf, auf welchen Ebenen?
Doch auf mehr als einer.
WR: Freiheit liegt sicher zunächst einmal darin, das Ereignis,
den Ton, den Klang sich so lange vorzustellen, bis er unumgänglich
wird, aber eben als Vorstellung, als Imagination und nicht als auf
dem Papier hergeleitetes Konstrukt; also den Ton als lebende Erscheinung
ernst zu nehmen, ihn mir als lebendiges Wesen so lange vorzustellen,
bis ich ihn setzen muss.
RB: Und wo ist da Freiheit? Freiheit im Zurückdrängen
der Setzung?
WR: Freiheit ist in diesem Fall: auch eine stärkere Verbindlichkeit
zu erreichen, nämlich eine Verbindlichkeit von meiner Physis
zum Geschriebenen, dass ich nicht mehr mich zurückziehen kann,
sondern wirklich in dem, was ich schreibe, einen Teil meines Fleisches
und meiner Haut und meines Blutes, meiner Substanz weitergebe. Das
ist natürlich auch ein Mythos, ich weiß.
RB: Nun gibt es ja verschiedene Begriffe von Freiheit. Es gibt
, lass uns unterscheiden eine Freiheit zu etwas und eine
von etwas. Wie sieht das im Falle des Komponisten aus?
WR: Ich sehe es sowohl als die Freiheit, zu Formen zu gelangen,
die nicht vorgesprochen und auch nicht mehr anders nachgesprochen
werden können, sondern die nur so sein können, wie sie
sind, und eine Freiheit von der gerüsthaften Vorordnung und
prozessualen Zurichtung von Gestaltfindung. Es ist etwas sehr Persönliches,
zweifellos. Aber du musst auch verstehen, dass ich diese Vorstellungen
in einer Zeit formuliert habe, wo allgemein ein Komponist nicht
als einer wahrgenommen wurde, der das macht, was er macht, sondern
zuerst: in welche Richtung er eingeordnet werden kann. Gehört
er in diesen Club oder gehört er in jenen Club? Das Individuelle
wurde gar nicht gesehen, sondern nur das...
RB: Es wurde Schulen beigegeben.
WR: Er wurde Schulen beigeordnet. Vielleicht ist das heute noch
so, aber ich glaube, es hat sich doch geändert.
RB: Es hat sich geändert, ja. Wie sieht das heute aus,
wenn du sagst, der Verantwortungsbegriff vor was?
Stichwort Verantwortung
WR: Verantwortung auch noch vor der alten Frage, wo kommt der
Ton her, natürlich. Warum dieser Ton hier, dieser Klang dort,
dieses Geräusch, diese Form, diese Gestalt so sein muss? Warum
ist nicht nichts, warum ist vielmehr ein anderes? Im Grunde beharre
ich auf dem Recht der Wahl. Alles ist Wahl, alles ist Entscheidung.
Vielleicht bin ich doch in der Weise ein Dezisionist, dass ich sage,
Kunst entsteht, indem ich entscheide, es sei dieses und es sei jenes
nicht. Ich zitiere oft Debussys Interviewäußerung, als
er gefragt wurde: Wie komponieren Sie?, antwortet er:
Das ist ganz einfach, ich nehme alle Töne und lasse die,
die mir nicht gefallen, weg. Also dieses Wählen, dieses
Entscheiden.
RB: Aber wo ist die Instanz für die Verantwortung?
WR: Siehst du, das ist es genau. Die Instanz muss in der Sache
selbst liegen.
RB: Und in dir.
WR: Und in mir. Aber nicht in einer herausgelösten, turngeräthaften
Anordnung von Spiel, die dann ein Ergebnis zeitigt. So war mir das
damals als Gedanke wohl attraktiv erschienen, als ich das geäußert
habe. Ich bin heute natürlich viel vorsichtiger geworden, mit
dem Begriff Freiheit zu operieren, weil ich um die Bedingungen und
die Bedingtheiten einfach mehr weiß, gut, je älter man
wird, spürt man auch mehr, wie relativ die großen Begriffe
sind, eben auch: Freiheit, nicht nur in der Kunst.
Musikalische Logik
WR: Was ist musikalische Logik?
RB: Musikalische Logik ist eine Kontradiktion.
WR: Empfinde ich auch so, aber...
RB: Es ist ein Begriff, der der reine Widerspruch in sich selbst
ist. Musikalische Logik ist etwas, was ein Komponist veranstaltet.
WR: Um etwas folgerichtig erscheinen zu lassen. Das wird dann
verglichen mit begrifflicher Logik.
RB: Nimm den Anfang der Eroica. Wie wir den Eindruck
haben, dass sich diese Musik Schritt für Schritt fortbewegt
seit dem Moment, wo das Cis zum ersten Mal dieses Es-Dur unterbricht.
Wie dann Sforzati hinzukommen, wie dann gegen den Takt gearbeitet
wird, bis im Es-Dur das volle Orchester erscheint. Der Hörer
hat den Eindruck, weil der Komponist es so manipuliert, dass von
der ersten Setzung an ein Prozess über 30 Takte hin logisch,
Schritt für Schritt, vor sich geht.
WR: Also ist die Hauptarbeit des Komponisten, etwas so erscheinen
zu lassen, etwas so in den Schein zu bringen, etwas so fiktiv zu
gestalten, als könne es nicht anders sein.
RB: Ja. Ästhetische Fiktion. Als könne es nicht anders
sein. Ich erinnere mich an eine wunderbare Situation in einem
Seminar von Hans Heinrich Eggebrecht, das ging über Bach,
das war das einzige Seminar, das ich außerhalb des Mittelalters
je bei ihm mitgemacht habe.
Und es wurde auch analysiert das war ein Seminar zur
Vorlesung , wir haben die Kunst der Fuge analysiert
und Eggebrechts These war, das alles mit absoluter Logik gesetzt
sei, die Ordnung der Sukzession könne nur so und nicht anders
sein. Und da geht Klaus Jürgen Sachs an die Tafel, schreibt
einen thematischen Beginn Bachs an die Tafel und fängt an,
den Comes zu komponieren. Er zeigt, dass zunächst nur eine
Möglchkeit offen war, dann zwei, dann mehr und mehr, sagen
wir 27, dann 148... Da sprang Eggebrecht auf und stoppte Sachs;
er hatte das Argument verstanden. Der Glaube, irgend etwas in
Musik folge einer Form unabdingbarer Logik, ist falsch. Es ist
eine reine Fiktion, dieser Glaube, dass ein musikalisches Geschehen
mit strikter Logik vor sich gehe.
WR: Man kommt als Komponist ständig in diese Entscheidungssituationen,
an diese Weggabelungen, wo die Entscheidung wichtig wird, in welche
Richtung weitergegangen wird. Aber diese Entscheidung muss mit einer
derartigen Überzeugung gefällt werden und artikuliert
werden, damit sie sich als zwingend mitteilt.
RB: Wenn der Komponist es will. Er kann aber auch wollen, dass
diese Unentschiedenheit über den Weg sich mitteilt und dass
das Werk endlich den einen von zwei Wegen geht, und so die Entscheidung
des Komponisten nach Zweifeln erfolgt und vielleicht angezweifelt
bleibt.
WR: Ohne dass der zweite Weg dem Hörer gänzlich vorenthalten
wird, sondern er wird angedeutet. Ständiges Offenhalten der
Ambivalenzen, Gegenbild von logischer Gedankenführung...
RB: Ja, und der zweite Weg findet vielleicht zu einem späteren
Zeitpunkt eine nachgeholte Existenz.
WR: Es ist eine Frage des Naturells, diese kompositorische Ambiguität
überhaupt zuzulassen.
(Im Folgenden sprach man über New Musicology
in den USA.)