WR: Kann die Wissenschaft die Spuren unterscheiden, die der Komponist
legt, um die Wissenschaft, mit der er vielleicht schon rechnet,
auf falsche Fährten zu locken?
RB: Beethoven hat nicht damit gerechnet.
WR: Nein, Beethoven hat nicht damit gerechnet. Brahms hat schon
eher damit gerechnet, deswegen hat er ja die Spuren vernichtet.
BR: Die Skizzen, ja.
WR: Die Skizzen. Brahms hat damit gerechnet, erforscht zu werden.
Und dieses Bewusstsein, die Skizzen könnten verraten, dass
er ganz anders vorgegangen ist, als es scheint...
RB: Das kann sein.
WR: Also dieses Vernichten der Skizzen bei Brahms ist für
mich ein starkes Indiz.
RB: Bist du sicher, dass so viele Skizzen da waren?
WR: Wahrscheinlich nicht so viele wie bei Beethoven. Brahms hat
wohl sehr vieles gleich in Partitur geschrieben. Aber man hätte
an den Skizzen wahrscheinlich seine Umformungsprozesse bemerken
können, über die du ja auch schreibst. Etwa wenn er zu
Anna Ettlinger wenn auch ironisch gesagt hat, dass
er ein Beethovensches Thema rückwärts...
RB: ...genommen hat, um es auf den Kopf zu stellen.
WR: Er nimmt es und kehrt es um. Also man hätte diese Umformungsprozesse
bemerken können. Es gibt ja auch wohl zeitgenössische
Berichte, die so lauten, dass Brahms beim Komponieren immer eine
Klassikerpartitur, wahrscheinlich Mozart, Beethoven, Haydn oder
Mendelssohn, aufgeschlagen neben seiner Arbeit liegen hatte. Also
solche Dinge hätte man wohl verfolgen können. Das Vernichten
von Spuren in diesem Fall hatte also durchaus seinen Sinn.
RB: Brahms ist aber ein Ausnahmefall. Schönberg hat alles
aufbewahrt.
WR: Ja, weil er vielleicht eben nicht so vorging.
RB: Und auch, weil er um seinen Platz in der Geschichte wusste
und den dadurch noch befestigen wollte.
WR: Ja, gut, Brahms wollte sich vielleicht seinen Platz in der
Geschichte durch Auffinden solcher Skizzen nicht lockern lassen.
Ich meine, das alles ist natürlich hypothetisch.
RB: Nein, aber das ist interessant. Aber jetzt, was wäre
das Nächste? Also jetzt sind wir schon bei...
Handschriften
WR: Wir waren bei der Hand, bei der Skizze, beim Einfluss der
Handschrift auf die endgültige Gestalt. Ich will ein anderes
Beispiel bringen: Die Angewohnheit zeitgenössischer Komponisten,
druckreife Reinschriften zu schrei-ben, die ja vor allem daher kommt,
weil die Verlage nichts mehr drucken, führt ja auch zu ganz
bestimmten Folgen für die Klangbilder. Diese geraten manchmal
fülliger, ausgezierter, angefüllter, als sie es vielleicht
wären, wenn sie lockerer, flüssiger geschrieben werden
könnten. Da noch was dazu, dort noch etwas. Hier ist
noch frei, da könnte man noch was dazuschreiben...
Ein Schreibvorgang, der das Wesentliche festhält, lässt
keine Zeit zu grafischer Ausgestaltung zweiten Grades, selbst wenn
diese rein optisch Dichte der Faktur suggeriert. Kompliziertheit
des Schriftbildes wird oft mit Komplexität der Musik verwechselt.
RB: Interessant ist ja auch, dass der Duktus des Schreibens
viel über die Konsistenz der Musik aussagt.
WR: Bei der Handschrift?
RB: Denke mal an Bachs Handschrift bei den Violin-Partiten.
Wenn du dir das ansiehst, wie die Notengruppen in Blöcken
zusammenstehen, das ist ja wie eine Analyse des Stücks.
WR: Die schriftliche Form des Stücks ist bereits ein erster
Analyse-Vorschlag...
RB: Die Reinschrift, ja, die letzte, es ist grandios.
WR: Und zeigt auch gleichzeitig das Wuchsartige des Komponierten.
RB: Oder nimm Wagner, wie er wir haben darüber gesprochen
wie er die Einrichtung der Partitur und den Vorgang des
Niederschreibens verändert von der Mitte des Siegfried
an, wo er dann zwei Partituren nebeneinander schreibt, weil das
Niederschreiben der Klangfarbenkomposition so wichtig ist, dass
er es nicht aufbewahren kann, bis das Ende des Aktes erreicht
ist.
WR: Er schreibt also eine Partitur des erfundenen strukturellen
Verlaufs und gleichzeitig eine Partitur der ausgearbeiteten klanglichen
Erscheinung.
RB: Und dann noch einmal die endgültige Reinschrift.
WR: Das ist dann der dritte Schritt.
RB: Der dritte Schritt, ja. Das ist das, was in der Sprache
des Bayreuther Archivs die Entwurfskizze und die Orchesterskizze
heißt. Schlechte Begriffe, aber...
WR: Gut, die haben sich eingebürgert.
RB: Leider haben sie sich eingebürgert. Da gibt es schon
doch eine ganze Reihe von Dingen, die man aus dem Material, aus
der Art, wie geschrieben wird, aus der Art, wie Sätze kopiert
sind, schließen kann.
WR: Auch in der neuen Musik?
RB: Bei Schönberg kannst du das auch.
WR: Sicher. Und bei der noch neueren Musik, glaube ich, doch auch.
RB: Nicht immer sind Skizzen und Versionen aufschlussreich.
Ich habe zum Beispiel versucht, bei den Heiner-Müller-Liedern
des Komponisten Wolfgang Rihm eine stark abweichende erste Fassung
zu finden. Ja, grundsätzlich gibt es solche Amtshilfen auch
bei der neuen Musik.
WR: Das Sekretariat dankt.
Der PC und die Folgen
WR: Aber welche Rolle spielt nun die Tendenz, dass viele junge
Komponisten gleich mit Computersatz arbeiten?
RB: Das ist ein Problem geworden. Das ist ja auch für Schriftsteller
da, es gibt ja die Originalhandschrift heute gar nicht mehr.
WR: Ja, es gibt das Problem der fehlenden Originalhandschrift
und es gibt das Problem der nicht mehr durcherlebten Zeit. Ich hatte
einen Studenten, der vor Jahren schon anfing, mit Computersatz zu
arbeiten. Kaum hat er das beherrscht, wurden seine Stücke rund
um die Hälfte länger. Diese Satzweise erlaubte ihm einfach,
die Texturen zu verlängern, die, hätte er sie mit der
Hand ausgeschrieben, sofort als mühsam von ihm erlebt worden
wären. Die Mühe, die man mit dem Hören von immer
gleich gewirkter Textur hat, die sich nicht auflädt, wäre
ihm schon im Schreibvorgang ahnbar geworden. Ich sehe es doch immer
bei Wettbewerben, wenn man Partituren vorgelegt bekommt, die alle
gleich aussehen. Mit einer simulierten Endgültigkeit des Partiturbildes,
als seien sie einer Gesamtausgabe entnommen. Und die Texturen, die
von den Schreibprogrammen angeboten sind, werden übernommen
und die Schreibweisen gleichen sich immer mehr einander an. Gut,
vielleicht ist das jetzt nicht die Musik, die einer wissenschaftlichen
Erforschung entgegenstrebt...
RB: Nein, es ist richtig. Auch selbst für Schreiber wie
mich hat sich mein Stil geändert dadurch, dass ich jetzt
seit zehn Jahren Computer benutze.
WR: Inwiefern?
RB: Er ist glatter geworden, was vielleicht nicht so schlecht
ist. Ich skizziere gerade noch so einen groben Verlauf eines Aufsatzes
oder eines Teils eines Aufsatzes und dann schreibe ich in die
Maschine.
WR: Und kannst natürlich an jedem Punkt etwas einfügen.
RB: Ich kann natürlich an jedem Punkt einfügen. Aber
die Tendenz, nichts zu verändern, weil es da schon einmal
sitzt, ist groß. Früher hab ich geklebt, zwischengeklebt,
gestrichen und so weiter.
WR: Also das, was Roland Barthes die Bestirnung des Textes nennt,
ist nicht mehr möglich.
RB: Doch, das ist noch möglich. Du könntest mit verschiedener
Type auf der rechten Seite einen Text haben, du könntest
unten links wieder einen anderen haben, den du... und so weiter.
Alte und neue Schreibweisen
WR: Also das ist jetzt ein Nebenschauplatz, über den wir
reden, aber es ist mir persönlich sehr wichtig, denn ich schreibe
alles mit der Hand. Mir würde das Schreiben mit solch einem
Hilfsmittel enorme Mühe bereiten, das gebe ich zu: es dauert
viel zu lang, ich kann nicht so schnell maschinell schreiben, wie
ich mit der Hand schreibe. Und dann brauche ich die über den
ganzen Tisch gebreiteten Blätter, die Vielfalt der Blätter.
Wenn ich immer nur eines sehen würde , gut, ich kann
es ausdrucken und dann nebeneinander legen, aber wenn ich nur eines
sehe, an dem ich arbeite, und mein Blick fällt nicht auch gleichzeitig
auf andere Blätter, wo ich blitzartig einen Gedanken festmachen
kann, den ich jetzt im Moment gar nicht brauchen kann, all diese
Dinge sind mir enorm wichtig. Das Springen, die Bewegung...
RB: Ich kann ja zum Beispiel am Computer im Windows-Programm
meinen Bildschirm splitten. Ich habe links eine Version, rechts
eine andere Version und kann hin- und herjoggen, das sind schon
fantastische Möglichkeiten wobei ich noch ganz an
der Oberfläche bin und die wirklich fantastischen Möglichkeiten
noch gar nicht erreiche.
WR: Die Geschmeidigkeit ist gewachsen?
RB: Aber es verändert sich natürlich doch der Stil.
Es ist nicht mehr so mühsam, so etwas zu machen.
WR: Der Stil, die Zubereitung des Stils ist nicht mehr so mühsam.
Werden die Texte dadurch länger?
RB: Nein, eigentlich nicht.
WR: Werden sie konziser?
RB: Ja, das ist schwierig für mich zu bejahen. Ich habe
durch den Wechsel in die USA und dann die Notwendigkeit, viel
in englischer Sprache zu schreiben, einiges von dieser deutschen
Kompliziertheit, dieser Hypotaxe verloren zugunsten von mehr einfachen
Aussagesätzen. Unsere deutsche Sprache ist ja verflixt kompliziert.
Und wenn man unter Adorno aufgewachsen ist und mit Dahlhaus zu
tun hatte, dann waren das Beispiele für eine Prosa, die sich
nicht durch Knappheit, Lapidarität auszeichnet, sondern einen
doch sehr verwickelten Gedankengang vorzeigte, der natürlich
auch dem Gedankengang entsprach, den wir gebraucht haben.
WR: Ja, wird der Gegenstand dadurch klarer, wenn er einfacher
beschrieben wird?
RB: Er scheint klarer zu sein. Und für die Kommunikation
von Gedanken zu Zeitgenossen ist es von großer Hilfe. Das
ist etwas anderes als das Geschäft des Komponisten. Da würde
ich keine Parallele ziehen. Die englische Sprache ist reich auf
anderen Gebieten, du hast vorhin in einem ganz anderen Zusammenhang
von den Idiomen gesprochen, da ist sie reich. Sie ist nicht so
reich an komplizierten Hölderlinschen Satzkonstruktionen,
wie wir es im Deutschen haben.
WR: Ja, sie ist bildhafter im Detail, weniger konstruktiv im Vorgang.
RB: Ja, weniger verschachtelt, hat weniger Hierarchien.
WR: Das könnte doch durchaus ein Bild für die in einem
Kulturraum entstehende Musik sein, dass sie stets auch auf die Sprache
bezogen ist.
RB: Ja, auch für die Philosophie.
WR: Nun schreibt aber ein Autor wie Nietzsche ein glasklares Deutsch
ohne diese Windungen.
RB: Ja, ein hervorragender Stilist.
WR: Und diese Windungen, die die Wissenschaftssprache oft hervorkehrt,
die entsprechen ja nicht den wunderbar klaren Biegungen und Wendungen,
die Goethe zum Beispiel zeigt. Da verstehe ich jedes Wort, jeden
Satz, jeden Weg. Es liegt also nicht an der Sprachstruktur allein.
RB: Aber bei Hölderlin sieht es da schon ein wenig anders
aus.
WR: Ja, weil er das Griechische nachahmt.
RB: Ein wiederum anderer Typ ist Kleist mit der allmählichen
Verfertigung der Gedanken beim Reden, was dieses endlos Fortspinnen
bedeutet, was du im Englischen auch nicht kennst. Gut, es gibt
dann natürlich so jemanden wie Joyce, bei dem eine ganz andere
Art von Komplizierung eingesetzt hat. Aber vielleicht noch mal
zurück zu dem, was man noch lernen kann, wenn man sich mit
Manuskripten beschäftigt. Eine sehr interessante Frage ist,
ob man aus früheren Entwürfen und deren Korrektur Rückschlüsse
ziehen kann auf die endgültige Version und deren ästhetischen
Rang oder nicht.
WR: Zumindest auf den Gedankenweg und dessen Beeinflussung.
Skizzen
RB: Also zum Beispiel ein Fall wie, nehmen wir Opus 11, Nummer
3 von Schönberg. Da haben wir ein Stück, das aus lauter
kleinen Einheiten besteht, Gruppen oder Momenten in Anwendung
von Stockhausens Terminologie. Für mich ist Opus 11, 3 in
gewisser Weise ein Vorläufer von Stockhausens Klavierstück
XI. Die Anweisung bei Stockhausen ist, jene Einheit zu wählen,
auf die zufällig das Auge fällt; wenn eine der Einheiten
dreimal gespielt wurde, ist das Stück zu Ende. Die einfachste
Version umfasste dreimal dieselbe Einheit, die reichhaltigste
Version böte 2n+1 Einheiten.
WR: Das können wir mit Nr. 2 und Nr. 1 nicht machen. Nr.
1 und Nr. 2 scheinen einen deutlichen Prozess, ein Ziel zu haben.
RB: Ganz eindeutig. Das hat Nr. 3 übrigens auch, es gibt
eine Art Reprise.
WR: Und es gibt einen Auflösungsprozess am Ende.
RB: Ja, du könntest den Anfang nicht in die Mitte setzen,
das Ende nicht an den Anfang. Aber das Manuskript zeigt, dass
die Reihenfolge der ersten Einheiten ABCD in einer im Manuskript
überlieferten ersten Version ACBD war.
WR: Aha, er hat vertauscht?
RB: Er hat vertauscht. Und da entsteht ein ästhetisches
Problem. Was bedeutet es, dass dieselbe Einheit in einer ersten
Fassung zehn Takte vorher stehen konnte. Und was dieser Einheit
folgte, steht jetzt vor ihr. Was bedeutet das für Logik und
Zusammenhang?
WR: Ja, eben, was ist da die musikalische Logik? Ist das also
von Schönberg wegen der musikalischen Logik verändert
oder hat er die bestehende Logik durchbrochen?
RB: Das ist nur ein einziges Mal, wo eine solche Umstellung
vorkommt. Ich habe auch in den Orchesterstücken Opus 16 nicht
irgend etwas gefunden, was vielleicht in diese Richtung geht.
WR: Wie ist denn die Skizzenlage zu Opus 16?
RB: Ganz wenige Skizzen nur. Fast Fehlanzeige.
WR: Da habe ich nie eine Skizze gesehen.
RB: Er hat ja in dieser Zeit überhaupt kaum skizziert.
Auch für das Monodrama Erwartung gibt es nichts.
WR: Ja, die Erwartung ist direkt in Partitur geschrieben.
In 14 Tagen.
Wissenschaft und Gegenwart
WR: Ich möchte doch noch einmal auf die Beziehung der Musikwissenschaft
zur zeitgenössischen Kunst, also zur gegenwärtig entstehenden
Musik hin fragen. Ich sehe, bestimmte Komponis-ten sind für
Wissenschaftler interessanter, andere weniger. Es gibt, vor allem
wenn sie gestorben sind, dann auch Heiligsprechungsvorgänge,
Beispiel Nono, Beispiel Feldman. Seltsamerweise wurde nach Cages
Tod nicht mehr so viel über Cage geschrieben. Vielleicht auch
deswegen, weil seine persönliche Präsenz zum integralen
Bestandteil seines Werkes gemacht worden war? Ich weiß es
nicht, warum. Aber: wann ist denn ein Komponist für die Musikwissenschaft,
die zu seinen Lebzeiten agiert, interessant? Wann ist ein Werk interessant?
RB: Das hat sich verändert. Als ich anfing zu studieren,
hat man über die direkte Gegenwart nicht geschrieben, sondern
es gab die These respektive das Dogma der zeitlichen Distanz.
Die Produktion der direkten Gegenwart galt als zu hautnah, ihre
Erforschung zu subjektiv. Diese Auffassung hat eine gewisse Berechtigung.
Es ist etwas anderes, über ein Werk von Wolfgang Rihm oder
über eines von Franz Schubert zu schreiben.
WR: Ja, gut, das liegt im Gegenstand.
RB: Das liegt im Gegenstand, na ja. Das eine ist meine ganz
direkte Gegenwart, im anderen Fall sehe ich von meiner Gegenwart
auch ein Stück Vergangenheit. Und das hat sich geändert.
Es ist bei der jüngeren Generation der Musikwissenschaftler
jetzt sehr viel mehr eine Neigung vorhanden, sich mit neuester,
mit gegenwärtiger Musik zu befassen, als es früher war.
Und ich hoffe, dass es dabei bleibt. Ich weiß, dass andere,
ältere Kollegen meine Position für falsch halten, dass
man zurück möchte zu dem alten Ideal, man beschäftige
sich am besten mit Musik des Mittelalters und der Renaissance
und nicht mit neuerer Musik, dass die Beschäftigung mit 19.
und 20. Jahrhundert zu sehr zugenommen habe. Ich halte das für
falsch.
WR: Aber in der historischen Wissenschaft würde man doch
Zeitanalyse, Gegenwartsanalyse nicht ausklammern.
RB: Nein. Niemand würde glauben, dass er Vergangenheit
rekonstruieren könnte. Du kannst Vergangenheit nur in Bezug
auf das, was sie der Gegenwart bedeutet, verstehen. Das also hat
sich gebessert. Sagen wir zunächst einmal: geändert,
nicht gebessert. Und nun ein weiterer Punkt. Es gibt Komponisten,
die leichter zu bearbeiten sind, solche zum Beispiel, die viele
Skizzen hinterlassen haben. Es ist doch sehr verlockend, in die
Sacher-Stiftung zu fahren oder auf die Giudecca und sich in die
Skizzen zu vergraben, weil da einfach Material ist, mit dem man
anfangen kann. Da stehst du nicht vor dem Nichts oder vor dem
Riesenberg und suchst den Anfang, wie eine kleine Maus, die sich
mühsam einen Zugang gräbt. Also Komponisten, die erstens
skizziert haben, zweitens ihre Skizzen gesammelt und drittens
ihre Skizzen zugänglich hinterlassen haben, sind solche,
über die man eher arbeitet. Komponisten, die sehr viel über
ihr Werk gesprochen oder geschrieben haben, sind Komponisten,
mit denen wir einfacher umgehen können.
WR: Also ist es gar nicht so sehr das Werk, dessen Schwerkraft
die Erforschung provoziert?
RB: Ja, es ist auch das Werk, aus einer persönlichen Betroffenheit,
aus einem persönlichen Interesse, durchaus.
WR: Das muss doch als Auslöser nach wie vor an erster Stelle
stehen!?
RB: Das war meine eigene Erfahrung. Aber das geschieht nicht
immer. Da sind Studenten, die kommen und sagen: Ich suche ein
Dissertationsthema, ich würde gern über irgend etwas
aus der Mitte unseres Jahrhunderts arbeiten, wo gibts denn
da Material, Quellen? Und dann stehen diese Fragen nach dem arbeitsfähigen
Material im Vordergrund.
WR: Also ist die Selbstkatalogisierung und die bereits von den
Komponisten vorgenommene Archivierung schon eine Strategie des gesicherten
Nachlebens?
RB: Hinterlassene Quellen müssen geordnet und katalogisiert
werden. Das alles spielt schon eine Rolle, obwohl ich eigentlich
hoffe, dass es nicht ein Werturteil ist, wenn vor allem diejenigen
Künstler, die Quellen hinterlassen haben, jetzt auch wert
sind, musikwissenschaftlich bearbeitet zu werden.
Gegenstandswahl
WR: Ich möchte noch mal fragen, wie müsste das Werk
selbst beschaffen sein, dass es den Musikwissenschaftler zur Fragestellung
heranlockt?
RB: Aus der Gegenwart. Na ja, nimm ein Stück wie ,
ja, lass mich noch einmal wieder auf deine Hölderlin-Fragmente
kommen.
WR: Ja, aber ich möchte mich jetzt aus dem Spiel lassen.
RB: Nein, ich wollte dir nur daran etwas zeigen. Das bietet
sich zum Beispiel schon an, weil es noch mal verwendet wird. Es
gibt eine Perspektive in ein anderes Stück hinein.
WR: Ich verstehe, ja.
RB: Es gibt neue Fragestellungen aufgrund dieser Tatsache. Das
erscheint für eine Bearbeitung meistens handelt es
sich ja um Dissertationen oder so etwas mehr geeignet als
ein Stück, das in sich selbst steht, wo es keine Skizzen
gibt, wo es nichts gibt ansonsten. Aber auf der anderen Seite,
was könnte man noch nehmen? Ja, ich darf jetzt Moses
und Aron nicht nennen, weil es auch wieder historisch ist.
Nono, Feldman, Stockhausen
WR: Aber nimm doch zum Beispiel die wirklich weit gestreute Beschäftigung
mit dem Werk von Nono oder auch von Feldman.
RB: Feldman, ist das so häufig?
WR: In Deutschland doch sehr häufig. Viel häufiger und
auf höherem Niveau als mit Cage.
RB: Aber Nono ist ein erstaunliches Phänomen, auch ein
Rätsel. Warum ist gerade Nono in den letzten zehn Jahren
so ins Zentrum der musikwissenschaftlichen Arbeit gerückt
?
WR: Ja, was ist es? Die Skizzen sind bunt, aber was teilen sie
mit außer dem wirklich enorm subjektiven Willen des
Autors zur Gestaltung?
RB: Es kann natürlich doch noch eine große Rolle
spielen, dass dieses politische Moment Nono eine Sonderstellung
gegeben hat. Meinst du nicht?
WR: Aber gerade das wird ja in dieser letzten Phase als nicht
dominierend empfunden.
RB: Gerade das, diese Ästhetisierung, die...
WR: Das hieße doch: es ist nicht die Faszination, die vom
Werk selbst ausgeht, sondern eher die Besprechbarkeit der durch
das Werk scheinbar oder wirklich vermittelten Inhalte?
RB: Ja, das auch, aber es ist auch die Art, wie dieses Material
angeboten wird. Es wird zum Beispiel weithin angezeigt von Nuria
Nono, dass es diese Möglichkeit gibt, dort zu forschen. Es
wird dir gesagt, wenn du kommst, dann musst du einen Bereich selbst
bearbeiten für das Archiv, das ist sozusagen dein Sektor,
du bist Teil einer Community von jungen Leuten, die sich um dieses
uvre schart und so weiter. Und Nono war ja am Ende so was
wie eine legendäre Person, auch wie er sich selbst dargestellt
hat in der Öffentlichkeit.
WR: Ich verehre ihn tief, ich bin immer noch in seinem Bann. Trotzdem
frage ich mich, was die wissenschaftliche Beschäftigung an
ihm mehr findet als zum Beispiel an Stockhausen, wo ja bis auf wenige
Ausnahmen
RB: Aber da muss ich sagen, da gibt es, glaube ich, mehrere
Punkte zu nennen: Erstens Stockhausen, der noch lebt, der einen
großen Einfluss auf die Darstellung seiner privaten wie
künstlerischen Existenz nehmen wird, also auf alles, was
über ihn geschrieben wird. Und wenn du Stockhausen-Skizzen
und andere Quellen einsehen willst, musst du den Autor selbst
konsultieren, das ist alles sehr viel schwieriger.
WR: Also ist der Komponist dann doch der Regisseur seiner Rezeption?
RB: Ja, in diesem Sinne doch. Nono hat das in einer ganz bestimmten
Weise gesteuert.
WR: Nono? Ich dachte Stockhausen.
RB: Stockhausen natürlich. Aber Nono auch. Nono als jemand,
der ganz einfach sympathischer erscheint, offener, der dann in
einer späten Zeit noch eine so scheint es jedenfalls
Wende vollzogen hat zu einem ganz anderen,
verinnerlichten Schreiben. Diese Art von Innerlichkeit und nicht
diese Selbstdarstellung Stockhausens, die eigentlich nicht kommunikativ
ist, die eigentlich abwehrt, wie er...
WR: Beschäftigung abwehrt?
RB: Beschäftigung abwehrt.
WR: Ja, denn an Stockhausens Werken selber kann es ja nicht liegen,
denn die sind nach wie vor...
RB: die gehören nach wie vor zum Allerbesten, was
heute komponiert wird...
WR: ...reichhaltig und von großer Differenziertheit und
gerade für einen Historiker vielschichtigst.
RB: Ja, und selbst die frühesten , es gibt zum Beispiel
nichts über Gruppen.
WR: Nichts. Eben. Warum? Das ist meine Frage. Es gibt die Darstellungen
von Frisius, und dann gibt es die hervorragende Arbeit von Winrich
Hopp über Kurzwellen, aber auf diesem Niveau gibt es kaum...
RB: Ja, und ich meine, was Blumröder sorgfältig recherchiert
hat und schreibt, hat ja durchaus Dokumentationswert, zum Beispiel
das Kapitel über Hermann Hesses Bedeutung für Stockhausen.
Aber ansonsten haben wir hier Panegyrik, das sage ich offen.
Boulez
WR: Wie ist es im Fall von Boulez?
RB: Zu Boulez gibt es ja auch einige gute Arbeiten; von Piencikowski
zum Beispiel, der vor allem mit Quellen der Sacher-Stiftung gearbeitet
hat; dann Ulrich Siegele.
WR: Da gibt es schon mehr Auseinandersetzung.
RB: Da gibt es mehr. Aber Boulez ist auch ein schwieriger Fall.
Kennst du Siegele?
WR: In Tübingen? Den kannte ich früher, den hab ich
seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ich weiß gar nicht, was
der macht.
RB: Wir haben uns gerade wieder getroffen und haben seinen 70.
Geburtstag in Toronto gefeiert. Siegele hat am Marteau sans
Maître gearbeitet und die Reihenkonstruktionen herausgefunden.
Siegele hat ohne die Hilfe des Autors, wenn nicht gegen dessen
Widerstand über Boulez geforscht.
Der zugängliche Autor
WR: Ja, erwartet der Wissenschaftler den kooperativen Autor?
RB: Wenn du einen lebenden Autor..., natürlich. Du kannst
ja diesem Autor gar nicht entgehen. Entweder du arbeitest mit
ihm zusammen oder du musst gegen ihn arbeiten und in den meisten
Fällen, weil die Manuskripte noch nicht in den öffentlichen
Bibliotheken sind (mit der Sacher-Stiftung ist es jetzt ein großer
Unterschied), musst du..., bist du angewiesen auf die andere Seite,
anders geht es doch gar nicht. Ich meine, es gibt ja noch verschlossene
Komponisten, heute noch, wenn du über Varèse arbeiten
willst...
WR: Muss man seinen Stiefsohn...
RB: Muss man über seinen Schüler gehen und du wirst
nichts bekommen.
WR: Das ist skandalös.
RB: Ja, das ist skandalös. Und ich meine, du kannst natürlich
über Stücke wie Intégrales arbeiten,
ohne dass du das Quellenmaterial aufarbeitest.
WR: Natürlich kannst du nur mit dem, was du vorfindest, arbeiten.
RB: Nur mit der gedruckten Partitur.
WR: Vielleicht mit Briefen?
Glücksfall Varèse
RB: Ja, was grad noch da ist. Aber wenn dann durch Zufall so
ein Manuskript in einer anderen Bibliothek gelandet ist, wie Intégrales
in Harvards Houghton Library, dann siehst du plötzlich, was
für Erkenntnisse du aus den Quellen zusätzlich ziehen
kannst.
WR: Du hast es gesehen, das Manuskript?
RB: Wir haben es ja in der Houghton Library. Und das ist genau
dieses Manuskript, das aus diesen Zettelchen zusammengeklebt ist.
WR: Es ist ein geklebtes Manuskript?
RB: Ein Manuskript, bei dem du sehen kannst, wie Varèse
die Stücke von seiner Wäscheleine abgenommen und sie
drangeklebt hat.
WR: So wie ich glaube, dass zum Beispiel auch Amériques
komponiert ist?
RB: Ja, so ist das, wie ausgeschnitten und draufgeklebt. Und
das verändert plötzlich die Lage.
WR: Das verändert völlig die Sichtweise.
RB: Und du müsstest sonst durch einen mühsamen analytischen
Prozess zu solchen Ergebnissen kommen, wenn du überhaupt
zu diesem Schluss kommen könntest. Und das macht natürlich
einen großen Unterschied. Obwohl auf der anderen
Seite könnte man auch wiederum kritisch sagen: dass du die
Skizzen benötigst, um das herauszupräparieren aus dem
Stück, ist ein Mangel deiner analytischen Methode. Du müsstest
eigentlich alles auch direkt aus der Partitur ableiten können.
Aber das macht das Arbeiten über Musik von lebenden Komponisten
nicht einfacher.
Theorielastigkeit?
WR: Heißt das, dass wiederum auf die kompositorische
Realität der Gegenwart bezogen die wissenschaftliche
Beschäftigung hauptsächlich dann einsetzt, wenn ein Werk
auch eine wie auch immer geartete Endmoräne von Theorie vor
sich herschiebt?
RB: Dann ist es immer einfacher.
WR: Dann ist es einfacher? Ja, also das scheint mir doch so: wenn
erst ein enormer Theorieaufwand behauptet ist, dann wacht der Wissenschaftler
auf. Das sage ich jetzt mal polemisch so.
RB: Dann beantwortet sich die Frage, wie man am besten beginnen
könne, zunächst einmal fast wie von selbst.
WR: Aber wenn der Wissenschaftler ein Werk hört, das nicht
vordergründig mit seiner Theorie fuchtelt, das ihn aber fasziniert...
RB: Dann sollte er, und hier rede ich aus eigener Erfahrung,
dieses Werk, das so betroffen macht, sofort wählen und bearbeiten,
nehmen.
WR: Dann sollte er das nehmen. Also der Wissenschaftler ist in
seiner Deformation nicht weniger gefährdet als der Abonnent,
der sagt: Oh, da will mir jemand was sagen, das will ich gar
nicht wissen. Der Wissenschaftler sagt: Oh, da sagt
mir jemand gar nichts, dann will ich es gar nicht erforschen.
Aber ich frage natürlich jetzt aus einer sehr janusköpfigen
Position heraus und ich will nicht doppelzüngig erscheinen,
natürlich frage ich als Komponist! Aber ich frage nicht: wie
soll ich es machen, damit ich erforscht werde! Das lässt sich
ja nicht veranstalten, das lässt sich ja nicht jenseits des
Werkes, das meinetwegen grau und unansehnlich ist, provozieren durch
besonders wilde theoretische Behauptungen. Faszination lässt
sich in keiner Weise provozieren, denke ich.
RB: Nein, natürlich nicht; aber es gibt ja Komponisten,
die ihre Gemeinden haben.
WR: Ist das nicht etwas für sie selbst sehr Gefährliches?
Ist das nicht für ihr Werk etwas enorm Problematisches?
RB: Ja, ganz, ganz sicher. Aber...
WR: Es schützt zwar im Moment und sorgt für eine gewisse
Präsenz, aber es nimmt der Sache, die vielleicht von sich aus
gerade noch die Kraft hätte, selbst zu stehen, sogar noch diese
Möglichkeit. Und irgendwann bricht es doch zusammen. Gibt es
auch Komponistenleichen, die von der Wissenschaft hochgehalten wurden,
lange nachdem sie verwest sind?
RB: Es gibt Fehleinschätzungen, wo die Wissenschaft eine
historische Bedeutung angenommen hat, die in Wirklichkeit nicht
besteht.
WR: Wen?
RB: Ich bin wahrscheinlich vorbelastet, aber ich würde
sagen, so jemand wie Telemann ist eine ganz lange Zeit fruchtbar
tätig gewesen , er hatte zudem noch eine bedeutende
Stellung.
WR: Absolut. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich Musik von
ihm höre. Die ist immer frisch erfinderisch, bezieht zum Beispiel
folkloristische Elemente mit ein, wie man so experimentierfreudig
es bei keinem seiner Zeitgenossen findet. Ein Avantgardist seiner
Zeit.
RB: Aber die Reaktion, als mein Freund Christoph Wolff aus Kiew
zurückkam und endlich die alte Bibliothek der Berliner Sing-Akademie
lokalisiert hatte, da war die Reaktion auf 150 unbekannte Telemann-Kantaten:
Um Himmels willen, noch mehr? diese entsetzliche
Fruchtbarkeit!
WR: Na gut, bei einem sehr langen tätigen Leben, fast 88
Jahre. Telemann war ein Beweger, fortschrittlicher als sein Freund
Bach....