[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 1
50. Jahrgang | Juni
Leitartikel
Auch eine Jury will richtig komponiert sein
nmz-Gespräch: Reinhart von Gutzeit über den Wettbewerb
Jugend musiziert
Schulmusiker klagen über ausfallenden Musikunterricht, Musikschulen
müssen Jahr für Jahr um ihre lebensnotwendigen Gelder
von Seiten der öffentlichen Hand bangen, die Schallplattenindustrie
hat kein Geld mehr für teure Orchesteraufnahmen, Orchester
fürchten die Überalterung ihrer Zuhörer, die Laienmusikverbände
sehen das Ehrenamt gefährdet und fürchten die Abgaben
an die Künstlersozialkasse. Scheinbar unberührt von allen
diesen Sorgen ist der Wettbewerb Jugend musiziert
eine fast 40-jährige Erfolgsstory im deutschen Musikleben.
Den 38. Bundeswettbewerb Jugend musiziert richtet die
Stadt Hamburg aus und die Veranstalter jubeln über einen
neuen Teilnehmerrekord: 1.500 junge Musiker werden zwischen 31.
Mai und 7. Juni in Hamburg erwartet. Jugend musiziert
wird wieder einmal seinem Image als Vorzeigeprojekt des Deutschen
Musikrates gerecht. Trotzdem oder gerade deshalb gehört es
zu den Aufgaben der Wettbewerbsmacher, sich ständig
Gedanken über die Verbesserung des Erreichten oder die Anpassung
an neue Forderungen zu machen.
Den aktuellen Wettbewerb mit seiner ungebrochenen Attraktivität
auf den musikalischen Nachwuchs nahm die neue musikzeitung zum Anlass,
um sich ausführlich mit dem Vorsitzenden des Jugend musiziert-Hauptausschusses,
Reinhart von Gutzeit, über Psychologie der Wettbewerbs-Jury
(siehe auch Artikel
von Gerhard Mantel auf Seite 9) und einiges mehr zu unterhalten.
neue musikzeitung: Herr von Gutzeit, welche Neuerungen gibt
es im 38. Jahr des Wettbewerbs und welche stehen in Zukunft an?
von Gutzeit: Dieses Jahr gibt es eine ganz wichtige Veränderung:
die so genannte Komma-null-Regelung. Der Teilnehmer
findet auf seiner Urkunde nicht mehr wie früher 24,2 oder
18,6 Punkte, sondern eine runde Punktzahl. Und das hat eine ziemlich
große Auswirkung auf die Psychologie dieses Wettbewerbs.
Ich halte es für unkünstlerisch, einem Spieler mitzuteilen,
dein Spiel war 22,4 Punkte wert. 22,4, das klingt so ähnlich
wie 100 Meter in 10,8 Sekunden und suggeriert von daher eine Objektivität,
eine Nachweisbarkeit im Detail, die wir nicht ernsthaft vertreten
können. Ich möchte auch nicht dahin kommen, dass der
eine Teilnehmer zum anderen sagt: Ich habe zwei Zehntel
mehr und bin also der Bessere. Deshalb muss ich jetzt an deiner
Stelle am Pult im Landesjugendorchester nach außen.
nmz: Im Herbst 1997 veränderte Jugend musiziert
entscheidende Wettbewerbsvorgaben und setzte neue Schwerpunkte auf
Kammermusik, Alte Musik und Zeitgenössische Musik. Was bewährte
sich, was nicht?
von Gutzeit: Wir wollten bestimmte Formen des Musizierens,
die am Musikmarkt heute wesentlich geworden sind, integrieren:
experimentelle Musik mit elektronischen Bestandteilen, alte
Musik auf historischen Instrumenten oder in historisch geprägter
Spielweise, größere Kammermusikwerke in ungewöhnlichen
Besetzungen. Wir haben hochinteressante Leistungen von jungen
Leuten in diesen Feldern erlebt. Ich bin mir sehr sicher, dass
die Zentralkonferenz im Herbst empfehlen wird, diese Kategorien
weiter zu führen.
Die entscheidende Veränderung aber war der Dreijahresrhythmus.
Mancher junge Musiker konnte sich nun in der Solowertung nicht
mehr so oft bei Jugend musiziert bewerben: Damit
verbanden wir die Hoffnung, dass auch die besten Spieler sich
mehr der Kammermusik zuwenden. Die Zeiten, wo die Kammermusikwertung
der Tummelplatz derer war, die sich keine Chance auf den ersten
Preis ausgerechnet haben, sind vorbei. Wir haben 2001 über
300 Pianisten beim Wettbewerb als jugendliche Klavierpartner,
hauptsächlich in der Kammermusikwertung. Das ist ein riesiger
musikpädagogischer Fortschritt.
nmz: Damit stellt sich die Frage nach der beruflichen Karriere
der Teilnehmer. Wen will Jugend musiziert ansprechen,
die Breite oder die Spitze?
von Gutzeit: Jugend musiziert ist in dieser
Hinsicht ein Zwitter. Der Wettbewerb soll der musikalischen Breitenarbeit
dienen. Auf diesen Aspekt legt zum Beispiel das Jugendministerium
als Preisstifter zu Recht großen Wert. Dieser Anspruch wird
vor allem auf Regionalebene erfüllt Die Stichworte lauten
hier: Festivalcharakter und Begegnung. Auf der Landes- und der
Bundesebene wird Jugend musiziert dann mehr und mehr
zu einem Spitzenwettbewerb mit hohen Leistungsansprüchen.
nmz: Hier treten die zukünftigen Solisten auf den Plan?
von Gutzeit: Wir müssen auf allen Ebenen der Musikausbildung
dieses große Ziel Ich will ein Solist werden
relativieren. Auch diejenigen, die mit 25 Punkten aus der Solowertung
von Jugend musiziert herausgehen, sind deswegen noch
nicht als zukünftige Solisten prädestiniert. Sie sind
vielleicht künftige Konzertmeister, Solobläser, Hochschullehrer,
sicherlich führende Kräfte im Musikleben aber
man braucht so wenig Solisten und generell sind Prognosen im künstlerischen
Leben gewagt und unprofessionell. Man kann nicht genug davor warnen,
immer nur diesen Fetisch Solist im Kopf zu haben.
Egal, ob bei Jugend musiziert oder in der Hochschulausbildung.
Denn damit wird letztlich vorprogrammiert, dass junge, leidenschaftliche
Musiker nach dem zweiten Berufsjahr Frustrierte sind, weil ein
Ideal sich nicht erfüllt hat. Es ist fatal, immer wieder
diesen Traum zu nähren. Auf der anderen Seite ist es natürlich
auch fatal, wenn junge Leute keine Träume mehr träumen.
Zur rechten Zeit das richtige Maß von Realismus zu finden,
ist ein wichtiges Ziel.
nmz: Das ist wohl eine Frage der Jurykultur?
von Gutzeit: Wir wollen möglichst vielen jungen Leuten
eine Bestätigung ihrer großartigen Leistungen geben.
So hat sich in den letzten Jahren eine Praxis herausgebildet,
Preise großzügig zu bemessen. Auf der anderen Seite
steht das Problem, dass durch Preise oft bei den jungen Menschen
nicht zu vergessen die Eltern und Lehrer falsche
Erwartungen geweckt werden. Auch führt die große Zahl
der Preise leicht dazu, dass diejenigen, die keinen Preis erlangen,
dies beinahe schon als Desaster empfinden. Eine schwierige Diskussion,
die auf der zentralen Konferenz im Herbst zu führen sein
wird.
nmz: Sein Image hat der Wettbewerb daher, dass beinahe
alle heute an exponierter Stelle wirkenden Musiker einen Preis bei
Jugend musiziert in ihrem Lebenslauf stehen haben. Wird
das in Zukunft auch noch so sein?
von Gutzeit: Ich glaube schon. Es gibt einige Höchstbegabungen
für die die Anforderungen des Wettbewerbs (nur
drei Sätze aus nur drei Epochen 15 bis
20 Minuten Spielzeit) beinahe zu wenig sind. Deshalb wurde auch
bereits überlegt, ob man an Jugend musiziert
einen Wettbewerb für diese überragenden jungen Musiker
anschließt. Diese Überlegungen sind bisher negativ
entschieden worden, auch mit der Begründung, dass ja für
die Teilnahme am Deutschen Musikwettbewerb kein Mindestalter festgelegt
ist.
nmz: An der Musikschule nimmt Jazz und Pop immer mehr Raum
ein. Gibt es Überlegungen, zum Beispiel mit Jugend jazzt
zu kooperieren?
von Gutzeit: Im Jazz-Bereich sehe ich keinen Grund, warum
wir dem Wettbewerb Jugend jazzt in irgendeiner Weise
Konkurrenz machen sollten. Allerdings gibt es heute sehr viel
zeitgenössische Musik, die starke Jazz-Elemente aufgreift.
Das hat natürlich bei Jugend musiziert absolut
seinen Platz.
nmz: Und der Pop?
von Gutzeit: Das wage ich nicht zu prognostizieren. Im
Augenblick stehe ich, gemeinsam mit vielen anderen Kollegen, auf
dem Standpunkt, dass diese Stilistiken sich mit vielen Prinzipien
von Jugend musiziert schwer vertragen und dass es
dann tatsächlich einen vollkommenen Charakterwandel geben
würde.
nmz: Jahr für Jahr warten Teilnehmer, Eltern und Lehrer
gespannt auf die Entscheidungen der Juroren. Nicht immer
findet sich da jeder im Urteil wieder. Ist die Jurorenphilosophie
ein Thema auf der Zentralkonferenz?
von Gutzeit: Auch ich habe dem Wettbewerbsdenken gegenüber
manche grundsätzlichen Bedenken. Dass ich mich dennoch leidenschaftlich
für Jugend musiziert einsetze, hat damit zu tun,
dass ich per Saldo hier immer wieder auf Juroren stoße,
die sich begeistern lassen von den jungen Menschen und die nicht
in erster Linie Fehler suchen, sondern die Qualitäten. Hier
hat sich schon unter den Juroren eine Kultur von Verantwortung
und Zuneigung zu den jungen Menschen entwickelt. Ein wichtiger
Aspekt, damit eine Jury zu einem guten Urteil kommt, ist auch,
dass sie gut gemischt ist. Dass zum Beispiel neben den Hochschullehrern
Musikschullehrer beteiligt sind. Es müssen erfahrene Juroren
drinnen sein, die Jugend musiziert kennen, aber es
müssen auch immer wieder neue hinzukommen. Das heißt
also: Die Komposition einer Jury ist auch eine sehr wichtige Aufgabe,
mit der sich die zuständigen Ebenen sehr intensiv beschäftigen
müssen.
nmz: Wie messen Juroren?
von Gutzeit: Es gibt bei der Beurteilung von Kunst letztlich
keine Objektivität. Es gibt eine Annäherung an Objektivität
und die erreicht man dadurch, dass man einen Konsens aus den subjektiven
Urteilen möglichst kompetenter Menschen bildet. Insofern
kommt es darauf an, dass Jurys nicht zu klein sind. In der Vergangenheit
war es oft so, dass die Jurys angefangen haben zu diskutieren,
bevor noch gepunktet wurde. Dadurch passiert es dann schnell,
dass ein Meinungsmacher andere Kollegen in eine bestimmte Richtung
beeinflusst. Deshalb haben wir vor einiger Zeit ein ganz anderes
Verfahren eingeführt und für die Jurys verbindlich gemacht:
Jeder Juror gibt zunächst einmal eine Punktzahl ab, ohne
dass irgendein Gespräch vorher stattgefunden hat. Natürlich
kann dieses vorläufige Ergebnis noch diskutiert und verändert
werden.
nmz: Das gilt auf allen Ebenen des Wettbewerbs?
von Gutzeit: Ja. Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist,
dass man möglichst Juroren hat, die die Teilnehmer nicht
kennen. Viele Landeswettbewerbe ziehen daraus die Konsequenz und
holen ihre Juroren möglichst aus anderen Bundesländern.
Das ist auf der Regionalebene allein aus finanziellen Gründen
oft sehr schwierig.
nmz: Oft stehen auch die Beratungsgespräche im Kreuzfeuer
der Kritik.
von Gutzeit: Die Beratungsgespräche müssen
teilnehmerzentriert sein: Der Teilnehmer will ja wissen, soll
das mein Beruf werden? Er will wissen, ist das angekommen bei
der Jury, was ich abschicken wollte? Es kommt vor im Beratungsgespräch,
dass die Juroren glauben, dieser Teilnehmer müsste den Lehrer
wechseln, weil ganz bestimmte selbstverständliche Dinge offenbar
diesem Schüler nicht vermittelt worden sind. Aber sie wissen
vielleicht nicht, dass der Lehrer genau diese Dinge auch jahrelang
gesagt hat. Keine Jury hat das Recht, einen neuen Lehrer vorzuschlagen.
Es sei denn, dass der Lehrer selbst in dieses Gespräch mit
einbezogen ist. Aber dazu haben wir bei Jugend musiziert
eigentlich keine Gelegenheit.
nmz: Beratungsgespräche gibt es bei Regional-, Landes-
und Bundeswettbewerben?
von Gutzeit: Auf der Bundesebene gibt man sich mit den
Beratungsgesprächen außerordentlich viel Mühe.
Das kostet auch sehr viel Geld. Auf der Landesebene ist das nicht
immer möglich, weil die Teilnehmer zum Teil gar nicht übernachten
und man das einfach gar nicht organisieren kann. Die Beratungsgespräche
haben nicht in allen Fällen die Qualität, die wir uns
wünschen, deshalb wird dieses Thema bei der Zentralkonferenz
einen ganz großen Stellenwert haben.
nmz: Geben Sie den Juroren einen Kriterienkatalog vor?
von Gutzeit: Je mehr wir bestimmte Kriterien vorgeben,
desto stärker werden die Teilnehmer versucht sein, sich ausschließlich
auf diese Kriterien zu konzentrieren. Umso mehr droht dann der
künstlerische Gesamtaspekt auf der Strecke zu bleiben. Wir
treten schließlich als Künstler an, wir wollen eine
Botschaft bringen, wir wollen uns ausdrücken. Und im Laufe
des Studiums werden wir immer mehr zu Knechten bestimmter Normen.
Ich kenne junge Musiker, die sagen, ich habe drei Versionen meiner
Sonate. Die eine ist die, die mein Professor von mir verlangt,
die nächste ist die, wie ich in der Prüfung spielen
muss, damit ich eine Eins bekomme, und die dritte ist die, wie
ich eigentlich selber spielen möchte. Ich möchte unbedingt,
dass die jungen Leute den Mut haben, bei Jugend musiziert
ihre ganz persönliche Version darzubieten.