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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 3
50. Jahrgang | Juni
Zukunftswerkstatt
Patenschaften und Publikumsdidaktik
Das Forschungsinstitut new classical will Denkanstöße
für das Konzertleben der Zukunft geben
Man stelle sich vor: Alle deutschen Orchester, Opernhäuser
und Festivals würden jährlich einen Komponisten für
eine Spielzeit als composer in residence einladen: über
500 lebende Komponisten würden das Musikleben in Atem halten
und dem Publikum das Gefühl geben, am Puls der Zeit
zu sein. Wird das Publikum beim ersten Zuhören noch nach Anhaltspunkten
suchen, so wird es beim zweiten Mal hören, worauf es dem Komponisten
ankommt. Hörspuren verdichten sich und es ergibt sich dann
das Evidenzerlebnis, das die einmalige Aura des Kunsterlebnisses
ausmacht.
In
Finnland etwa wird ein composer in residence-Programm
schon seit 1997 erfolgreich praktiziert: Auf Initiative des finnischen
Musikinformationszentrums und mit der finanziellen Unterstützung
des Finish Cultural Fund und der Foundation for the Promotion of
Finish Music haben über die Hälfte der 27 Finnischen Orchester
52 Komponisten als composer in residence eingeladen.
1999 lief die Anschubfinanzierung aus. Die Zustimmung des Publikums
war aber so groß, dass zehn Orchester das composer in
residence - Programm auf eigene Kosten fortführen wollen.
Nicht weniger als 25 Werke zeitgenössischer finnischer Komponisten
wurden in den letzten zwei Spielzeiten uraufgeführt, fünf
weitere Uraufführungen stehen aus. Ein composer in residence-Programm
kann Wunder wirken, nicht nur in Finnland, sondern auch in Lyon,
wo in den Konzertsaisons 1997 bis 1999 der französische Komponist
Pascal Dusapin öfter aufgeführt wurde als Mozart und dies
ohne jede Minderung des Publikumszuspruches.
Für fünf Jahre composer
in residence in Hannover: hespos (siehe nmz 5/01, Seite
39). Foto: Martin Hufner
Schauen wir nach Deutschland: drei bis sechs Prozent der Programme
deutscher Orchester enthalten Werke lebender Komponisten. Selten
ist die composer in residence-Stelle, gängiger
die sogenannte Sandwich-Programmierung: Zwischen zwei Meisterwerken
der Klassik und der Romantik wird ein Werk zeitgenössischer
Musik vor der Pause auf das Programm gesetzt. Begründung: damit
das Publikum nicht geht. Bei solcher Sandwich-Progammierung ziehen
die Zeitgenossen immer den Kürzeren. Wichtig ist, dass die
Ohren des Publikums auf die zeitgenössische Musik vorbereitet
werden. Der Spielraum dafür ist heute unendlich viel größer
als noch vor 50 Jahren, denn die ästhetische Schockwirkung,
die von Werken wie dem Sacre du Printemps oder Schönbergs
3.Streichquartett ausgegangen sind, gelten heute nicht mehr. Der
neue Spielraum wird momentan nur selten ausgelotet. Die Erfahrung
in der Programmdramaturgie und Publikumsdidaktik mit der zeitgenössischen
Musik steckt noch in den Kinderschuhen, doch einige positive Beispiele
geben Hoffnung, wie zum Beispiel Kent Nagano in Berlin oder Ingo
Metzmacher in Hamburg.
Orchester, die innovativ sind, sollten privat und staatlich finanziell
gefördert werden. Das schafft Anreize zum Wettbewerb der besten
Ideen und Konzepte. Eine Beteiligung der Orches-termusiker an der
Programmgestaltung ist wünschenswert. Bisher haben die meisten
städtischen und staatlichen Orchestermusiker kein Mitspracherecht.
Die Musiker des London Symphonie Orchestra zum Beispiel besitzen
ihr Orchester selber, entscheiden über den Chefdirigenten,
das Programm und ihr Gehalt. Das schafft ein hohes Maß an
Eigenverantwortung und Kompetenz. Ähnlich ist es bei der Deutschen
Kammerphilharmonie Bre-men. Es stimmt nachdenklich, dass viele Orchester
hier zu Lande keinen finanziellen Spielraum mehr haben, um auch
nur eine Auftragskomposition pro Spielzeit zu vergeben. Die Lohnkosten
eines Orchesters steigen, die Eintrittspreise können aber nicht
dementsprechend angehoben werden. Die Kommunen drosseln die Ausgaben.
So kommt es, dass zum Beispiel die Staatsphilharmonie Rheinland
Pfalz (Intendant Christoph Caesar) bei einem Gesamtbudget von 16,8
Millionen Mark, 88,5 Prozent für Lohn- und Fixkosten aufwenden
muss. Es bleiben nur knapp zwei Millionen Mark für die Honorare
der Dirigenten und Solisten sowie für Werbung und Marketing.
Für Zukunftsinvestitionen bleibt kein Spielraum. Es geht sogar
so weit, dass Orchester sich nicht mehr in der Lage sehen, die bei
der Aufführung zeitgenössischer Werke fälligen Leihmaterialien
und GEMA-Gebühren zu bezahlen. Eine konservative Programmpolitik
ist somit oft aus der Not geboren, jede Mark zu sparen.
Der deutsche Musikrat unterstützt zwar die Wiederaufführung
von Werken deutscher Komponisten, die nach 1950 komponiert worden
sind, was zu einer Verdoppelung der Aufführungsfrequenz lebender
Komponisten in den 80er-Jahren geführt hat, aber internationaler
Austausch findet nur bedingt statt. Hier ist der GEMA/SACEM-Fond,
der den kulturellen Transfer von zeitgenössischen Werken zwischen
Deutschland und Frankreich fördert, ein Schritt in die richtige
Richtung. Die Orchester sind aufgerufen mit Unterstützung des
deutschen Musikrats, der Kulturstiftung der Länder und anderer
Stiftungen, aber auch durch Sponsoren, sich an der Einrichtung von
composer in residence-Programmen, konzertpädagogischen
Stellen und Fundraise-Stellen zu beteiligen. Ist eine Anschubfinanzierung
gesichert, dann sind die Chancen, eine neue Dynamik im Musikleben
zu entwickeln, sehr groß. Es lohnt die Mühe, lebende
Komponisten wieder in das traditionelle Musikleben zu integrieren.
Eine jede gelungene Uraufführung ist ein Highlight der Saison
(ich erinnere hier an die vier, von Helmuth Rilling in Auftrag gegebenen
Vertonungen zum Thema Passion); ein Komponistenporträt-Marathon
wie die Ligeti-Nacht des NDR war ein unbestreitbarer Publikumserfolg.
Es gibt viele richtungsweisende Einzelinitiativen, aber sie sind
nur wenigen Spezialisten bekannt. Das new classical Forschungsinstitut
(NCFI) an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater ist
1999 gegründet worden, um Initiativen, die zukunftsweisend
und innovativ sind, bekannt zu machen. Das NCFI will helfen, professionelles
Know-how zugänglich zu machen.
Neue Ideen entstehen oft dort, wo finanzielle Not herrscht. Hier
sind Orchester, wie die englischen Sinfonieorchester, gezwungen,
nach vorne zu denken und Lösungen zu finden. Sir Simon Rattle
hat mit seinem Birminghamer Orchester viele neue Perspektiven aufgezeigt.
Das Abopublikum kann zum Beispiel Patenschaftsanteile an einem Uraufführungswerk
erwerben. Das Royal Scottish National Orchestra hat ein innovatives
konzertpädagogisches Programm unter Leitung von Paul Rissmann
eingeführt, das jährlich 30.000 Kinder und Erwachsene
erreicht. Die Orchestermusiker gehen freiwillig und ohne zusätzliche
Bezahlung in die Schulen und stellen ihre Instrumente vor, führen
in die klassische Musik ein und erläutern zeitgenössische
Musik. Über 600 solcher Veranstaltungen finden überall
in Schottland pro Spielzeit statt. Das Orchester arbeitet eng mit
einem Komponisten als associated composer zusammen.
Der Komponist (zur Zeit der Amerikaner Michael Torke) arbeitet
im pädagogischen Programm mit und komponiert für die Kinder.
Hier entsteht ein emotionaler direkter Kontakt zwischen dem Komponisten
und seinem zukünftigen Publikum, der oft ein Leben lang anhält.
Das London Symphony Orchestra baut für 41 Millionen Mark ein
eigenes educational center, an dem für alle die
Möglichkeit besteht, sich die Welt der klassischen und zeitgenössischen
Musik zu erschließen.
Reinhard Flender.
Foto: J.L. Camejo
Auch in den USA, wo es keine nennenswerte Unterstützung von
staatlicher Seite für Kultur gibt, findet man einige richtungsweisende
Einzelinitiativen: Die New Yorker Carnegie Hall verfügt über
ein Budget von 4,2 Millionen Dollar, das zu 97 Prozent von privaten
Sponsoren getragen wird. Dieses Budget wird ausschließlich
für ein bahnbrechendes konzertpädagogisches Progamm LinkUP
unter Leitung von Phyllik Beeson Barbash verwendet. 23.000 Kinder
und Jugendliche werden jährlich in den Schulen besucht und
40.000 Kinder kommen in die Carnegie Hall. Auch hier wird der erste
Besuch in dem Konzertsaal sorgfältig über Monate vorbereitet.
Diese Programme wurden initiiert aus der Erfahrung, dass klassische
und zeitgenössische Musik nicht ohne eine Schulung des Ohrs
verständlich ist, zumal die Ohren der Kinder zu 99 Prozent
an Popmusik geschult sind. Das Ohr muss lernen, den entscheidenden
Unterschied zu machen zwischen Popmusik hören, Klassik hören
und zeitgenössische Musik hören. Die eine Hörerfahrung
ist nicht ohne weiteres auf die andere übertragbar.
Keiner weiß, wie sich die Musikgeschichte in den nächsten
Jahrzehnten weiterentwickeln wird. Zur Zeit ist alles möglich.
Entscheidend ist, dass eine breite Palette von Partituren verschiedener
stilistischer und nationaler Herkunft aus den Schubladen herausgezogen
wird. Die aktuell komponierte Musik hat längst den Nimbus des
Schwierigen abgelegt. Eine der wichtigsten Aufgaben
ist es, die Neugierde beim Publikum für die Neue Musik
wieder zu wecken. Dann wird es einen Ausleseprozess geben, der auch
unbedingt notwendig ist, um Orientierung zu schaffen. Einige wenige
Werke werden im Repertoire bleiben, aber bei den derzeitigen geringen
Aufführungschancen verkümmert nicht nur eine ganze Generation
von begabten Komponisten, es besteht auch die Gefahr, dass viele
Menschen auf eine wichtige Säule des Musiklebens in Zukunft
verzichten müssen.
Reinhard Flender
new
classical
Das new classical-Forschungsinstitut hat sich die
Aufgabe gestellt, Denkanstöße zu geben, um das traditionelle
Konzertleben zu modernisieren. Ziel des Instituts ist es, erfolgreiche
Modelle der Vermittlung Neuer Musik zu untersuchen und weiter
zu entwickeln, um junge Menschen für Neue Musik zu begeistern,
zeitgenössische Komponisten besser ins traditionelle Musikleben
zu integrieren und das Image der Neuen Musik in der Öffentlichkeit
zu fördern.
Das Institut ist aus der Überzeugung entstanden, dass eine
Hochschule, mit den Ausbildungszweigen klassische Musik/neue Musik,
Komposition und Kulturmanagement, sich verstärkt auf der
Ebene von Strukturen und Marktmechanismen in einen künstlerisch
kreativen Prozess begeben muss, um neue Wege zu beschreiten. Hierzu
braucht es den Freiraum zu forschen und neue Ideen zu entwickeln.
Derzeit arbeitet das Institut an der Verwirklichung einer umfangreichen
internationalen Studie zum Thema Composer in Residence, die durch
die GEMA-Stiftung und die SACEM unterstützt wird. Das Institut
besteht aus Beirat, Kuratorium, Direktor und stellvertretendem
Direktor, die ehrenamtlich tätig sind, die Projektleitung
wird von peermusic finanziert. Die wissenschaftliche Arbeit wird
von Doktorandenstipendien getragen.