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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 10
50. Jahrgang | Juli/August
www.beckmesser.de
Groves GAU
Die Mitteilung an den Dear Customer kam auf schickem Briefpapier
aus dem Hause Macmillan Publishers, London N1 9XW, unterschrieben
von der Marketing Managerin. Es freut uns, Ihnen mitteilen zu dürfen,
heißt es darin im üblichen Business New Speech, dass
wir die Bände 24 und 26 korrigieren und neu drucken werden.
Die Freude dürfte sich wohl in Grenzen halten, denn für
Macmillan ist neben dem beträchtlichen finanziellen Mehraufwand
vor allem ein irreparabler Vertrauensverlust entstanden. Was als
lexikalische und musikwissenschaftliche Großtat angekündigt
worden war das Erscheinen der zweiten Auflage von The
New Grove Dictionary of Music and Musicians zu Beginn dieses
Jahres , entpuppt sich nun als editorischer GAU. Natürlich
gibt es kein Nachschlagewerk ohne Fehler, Unstimmigkeiten und Widersprüche
(vgl. den Artikel
auf S. 21 dieser Ausgabe), und auch das deutsche Konkurrenzunternehmen
MGG ist davor nicht gefeit sein falsches Todesdatum von Beethoven
gilt als Lachnummer in Fachkreisen. Aber dass gleich zwei von 29
Bänden eingestampft werden, gibt zu denken.
Interessant ist die Begründung: There has been much
discussion regarding errata in the articles on Stravinsky and Wagner.
Bei zwei Koryphäen also wurde geschludert. Aber was ist wohl,
fragt sich der hellhörig gewordene Customer, mit den vielen
Artikeln über minder kapitalkräftige Namen? Bleiben diese
vielleicht nur deswegen im Markt, weil da keine mächtige pressure
group einen Neudruck fordert? Der Artikel über Schubert, so
ist zu hören, soll auch nicht gerade eine Glanzleistung sein,
und den Beitrag über Kagel schmückt ein Foto mit der Legende
Mauricio Kagel, 1971, auf dem jedoch György Kurtág
abgebildet ist.
Daraus dürfen Schlüsse auf den redaktionellen Sachverstand
gezogen werden. An ihm scheint es offensichtlich gehapert zu haben,
wie man auch einem Artikel des Independent vom 30. Dezember
2000 entnehmen kann (Dokumentation unter http://www.meome.de/app/de/portal_news_article_
jsp/72831.html). Er zitiert ungenannte Mitarbeiter mit der Bemerkung
von einer teenage army of non-musicological graduates,
in deren Verantwortung die letzten Korrekturen lagen, und von einem
Verlagshaus, das aufs Gaspedal drückte und jeden aus der Redaktion
hinausdrängte, der es allzu genau nehmen wollte und damit das
Tempo verlangsamte. Vor kurzem ist Macmillan in die Hände des
deutschen Holtzbrinck-Konzerns geraten. Die Behauptung vom Zeitdruck
ist nicht ganz abwegig, wenn man in Betracht zieht, mit welchen
aggressiven Kostenrechnungen die Medienmultis heute um ihre Marktposition
kämpfen. Es geht um Marktanteile, nicht um Inhalte.
Die Scharen von Studienabgängern aller Richtungen, Volontären,
Aushilfen und Praktikanten kennt man auch vom hiesigen Medienbetrieb.
Sie werden rasch durch die diversen Abteilungen geschleust, machen
für wenig Geld die Arbeit, für die sonst hoch bezahlte
Spezialisten beschäftigt werden müssten, und nach einem
Jahr Projektmitarbeit stehen sie wieder auf der Straße. In
dieser Zeit sollen sie nach dem Prinzip des learning by doing bewältigen,
was früher auf der Basis jahrelanger Ausbildung und Arbeitserfahrung
geleistet wurde.
Es ist der Typ des Content Managers, der hier gezüchtet wird:
Heute mache ich die Hauszeitung einer Schuhfabrik, morgen die PR
für eine TV-Talkshow, übermorgen schreibe ich eine Konzertkritik
oder redigiere ein Musiklexikon. Die Turbo-Ausbildung an der Universität
machts möglich. Und nach fünf Jahren Content-Praxis
hat man vielleicht auch kapiert, dass sich die Konjunktion dass
mit Doppel-s schreibt. Gefördert und gefordert wird ein solches
Berufsbild durch die New Economy, wo Flexiblität, schnelle
Reaktion und lösungsbezogenes Denken zu den Grunderfordernissen
gehören. Nicht aber Nach-Denken: Das ist zu teuer und wirkt
schon vom Wort her rückwärts gewandt, hält also nur
auf.
England ist von allen europäischen Ländern dasjenige,
das sich am schnells-ten und gründlichsten dem ganzen Internet-
und New Media-Firlefanz unterworfen hat, mit dem die US-amerikanische
Kommunikationsindustrie derzeit die Welt erobert. Kein Wunder, dass
unter solchen Bedingungen eine sorgfältige und fundierte Aufarbeitung
des musikalischen Wissens von Jahrhunderten nicht mehr funktionieren
kann. Dafür sind nun erstmals die schnelllebigen Konsumgüter
der Pop- und Unterhaltungsbranche lexikalisch erfasst worden
Zukunftsmusik?
In der hektischen Schlussphase der Edition sind gleich zwei Herausgeber
verschlissen worden: Der verdiente Stanley Sadie, der schon den
Grove von 1980 betreute, und sein Nachfolger John Tyrrell, ein Janácek-Spezialist;
er hat laut Independent die Personalpolitik des Unternehmens
für die mangelnde Qualität verantwortlich gemacht. Nachfolgerin
ist Laura Macy, Leiterin der Online-Version des New Grove. Und hier
läuft der Hase lang: Das Lexikon soll offensichtlich primär
zu einem Online-Medium umgemodelt werden.
Mit 190 Pfund Jahresgebühr kommt auf Dauer mehr zusammen
als durch den einmaligen Verkaufspreis der Printausgabe, Lager-
und Versandkosten entfallen. Und nebenbei kann man auch klammheimlich
und fortlaufend all die Fehler korrigieren, die in gedruckter Form
die Inkompetenz des Herausgebers für Jahrzehnte festhalten
würden. Was wann und wie korrigiert wurde, braucht der User
dann nicht mehr zu wissen. Das ist die neue Dynamik der Wissenschaft.