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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 1
50. Jahrgang | Oktober
Leitartikel
Ringparabeln
Lessing ist fern. Nathan der Weise verschwunden mitsamt den Ringen, die mit ihrer so schönen wie tiefsinnigen
Symbolik den friedlichen Wettstreit der Religionen darstellen sollten. Stattdessen wird geschossen und bombardiert,
Ölfelder brennen, Embargos werden verhängt, Menschen zur Flucht getrieben, und zum vorläufig
letzten Aktschluss einer scheinbar unendlichen Tragödie stürzen gekaperte Flugzeuge samt schuldigen
Piraten und unschuldigen Passagieren auf Hochhäuser aus ihren Wolkenhöhen zur Erde nieder, Tausende
unschuldiger Menschen unter den Trümmern begrabend. Seither überflutet die Menschheit, die westliche,
abendländische vor allem, der Wortschwall der Kommentatoren, der Exegeten, der Experten, der Politiker,
der Vernunftprediger, die vor schneller Rache warnen. Auch ein Sterndeuter meldete sich zu Wort und beschwor
den Geist Luzifers, der das Ganze als teuflisches Theater inszeniert haben könnte. Der arme Karlheinz Stockhausen:
Nie hört die Allgemeinheit auf Warnungen und Ermahnungen der Künstler, nur wenn diese im falschen
Augenblick und nur in der Fantasie zum Nerone mutieren, der einst Rom anzünden ließ, um das Feuer
zu besingen, schrecken die Leute auf und empören sich. Wolfgang Rihm verteidigte in einer Stellungnahme
seinen Kollegen nicht dessen Sätze, die in diesem Augenblick nur fatal bis einfältig wirken
mussten. Rihm wies auf Stockhausens synkretistisches Welt- und Gottesbild hin, in dem Luzifer
einen festen Platz habe. Das bedürfe, so Rihm weiter, der Übersetzung, zu der die
Medien in ihrer Schnelligkeit zunächst nicht in der Lage seien. Stockhausen hätte dieses
in Hamburg bedenken müssen.
Aus der Sicht der Kunst und der Künstler, und vor allem diese Perspektive soll uns hier beschäftigen,
stellen sich die Fragen aus aktuellem Anlass komplexer und komplizierter. Max
Nyffeler in seiner Kolumne (Seite 8) und Reinhard Schulz im
Nachschlag (Seite 44) werfen solche Fragen auf, deren Beantwortung womöglich sehr lange,
über die bedrohliche nächste Zukunft hinaus, auf sich warten lassen wird. Max Nyffeler geht in seiner
Beurteilung der Rolle, die der Musik bei der Gestaltung unserer Zukunft, unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens,
das immer stärker auch von ethnischen Begegnungen und Verschmelzungen, auch Konfrontationen, geprägt
sein wird, vielleicht etwas zu harsch mit dem Musikbetrieb der Avantgarde zu Gericht. Ist die Beschwörung
des tradierten Wertekanons nicht etwas zu wohlfeil und diffus in der Begrifflichkeit? Zu sehr retrospektiv orientiert?
Auch das sind Fragen.
Um einmal konkret zu werden: Im letzten Zeitfluss-Festival bei den Salzburger Festspielen, die
beziehungsvoll in einem Zelt stattfanden, begegnete man der wunderbaren Komponistin und Sängerin Meira
Asher, die in einer Performance die Manipulierbarkeit von Kindern anklagte, die als Soldaten im Krieg der Erwachsenen
eingesetzt werden, in einer Klangsprache, in der afrikanische Rhythmen und Melodien, indische Klänge und
elektronischer Beat sich verbinden. In einer Sufi-Nacht mit den Fakiren vom Schrein des Shah Abdul Latif erfuhr
man viel über die volkstümliche Mystik des Islam, und die persischen Musiker und Komponisten Nader
Mashaykhi und Hossein Alizadeh verschmolzen ihre Musik mit den Klängen eines Perotin und Scelsi. An diesen
aufregenden Abenden im Gemeinschaft stiftenden Zelt war zu erfahren, was Musik in ihrer emotionalen
Bewegtheit und Kraft für das tiefere Verstehen des anderen, Fremden zu leisten vermag. Das
vermag kein Fernsehkommentator und keine politische Rede. Benötigt wird eine andere, unverbrauchte Sprache,
eine wie die Musik und der Gesang. Vielleicht kehrt Lessings Geist dann auch wieder zurück.