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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 1
52. Jahrgang | Juni
Leitartikel
Schießen Sie nicht auf den Kulturdezernenten
Wenn schöne Reden sie begleiten: die Kulturpolitik verwaltet
ihre Hilflosigkeit · Von Gerhard Rohde
Der deutsche Bundespräsident hat sich in letzter Zeit immer
wieder einmal zum Thema Kultur geäußert – nach
väterlicher Art voller Sorge natürlich. Zuletzt warnte
er beim GEMA-Jubiläum in Berlin vor weiteren Einsparungen bei
der Musikerziehung. Die kulturelle Zukunftsfähigkeit Deutschlands
sieht er bedroht.
Bildung ist mehr als PISA, sagte er. Und: wir müssten den
Boden bereiten für Kreativität. Er sagte noch mehr –
siehe Seiten 8 und 27
dieser Ausgabe. Irgendwie kommt einem alles, was er redend äußert,
sehr bekannt vor. Seine Redenschreiber müssen wohl seit dreißig
Jahren regelmäßig die neue musikzeitung lesen. Solange
nämlich versuchen kompetente und verantwortungsbewusste Musikfachleute
– Pädagogen, aktive Musiker, Wissenschaft- ler et cetera
– der Gesellschaft, zu der man gern auch die Politiker zählen
möchte, einzuhämmern, wie entscheidend die Kulturpflege
des menschlichen Gehirns für die Zukunft dieses Landes ist.
Die PISA-Studie, die auch ihre anfechtbaren Perspektiven besitzt,
hat vorübergehend produktive Schockwirkungen ausgelöst,
die allerdings schon wieder nachgelassen haben. In Brandenburg zum
Beispiel wird das erst vor drei Jahren beschlossene Landesgesetz
zur Unterhaltung der Musikschulen finanziell schon wieder ausgehöhlt
(siehe Seite 30 dieser Ausgabe).
In Nordrhein-Westfalen etabliert das Land mit Millionenzuschüssen
eine pompöse Triennale, um die Ruhr-Region kulturell überregional
aufzurüsten, gleichzeitig kürzt sie den heimischen Theatern
entgegen ursprünglichen Beteuerungen die Zuwendungen und beschädigt
dadurch das künstlerische Angebot an das treue Stammpublikum
der Traditionshäuser. Der Bundespräsident ähnelt
bei seinen Ansprachen an die Kulturnation dem Komiker Buster Keaton:
Während dieser auf seiner Lokomotive namens „General“
zielstrebig zu seiner Truppe an die Front dampft, bemerkt er vor
lauter wuseligem Übereifer weder den Verlust der angehängten
Waggons noch die zurück fliehenden eigenen und vom Feind verfolgten
Soldaten.
Der politische Kulturverbalismus trägt durchaus Anzeichen einer
Schizophrenie. Rede und Tat klaffen ständig weiter auseinander.
Man kann auch nicht alles und jedes auf die aktuelle Geldnot schieben.
Warum ergeht es uns im Augenblick so miserabel? Vielleicht auch
deshalb, weil die Gesellschaft und mit ihr ihre politische Repräsentanz
schon in Zeiten prosperierender Wirtschaft die Wichtigkeit und den
daraus folgenden Anspruch von Bildung und Kultur für die Zukunftsfähigkeit
unserer Sozietät nicht im zu fordernden Maße ernst genommen
hat. Jetzt schlägt die Ero-sion in der Kulturlandschaft und
nicht nur dort Tag für Tag stärker durch und das Gejammere
ist groß. Und wenig Hoffnung kommt auf, schaut man auf diejenigen,
die eigentlich berufen wurden, den politischen Raum zu schaffen,
den Bildung, Kunst, Kultur in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit benötigen,
um ihre innovativen Energien zum Nutzen und für die Zukunft
einer demokratischen Bürgergesellschaft zu entfalten.
Nur zwei Exempel (ohne Namensnennungen) aus der Welt des Musiktheaters:
In Köln lässt der CDU-Oberbürgermeister der designierten
Opernintendantin telefonisch mitteilen, dass sie in Köln nicht
mehr erwünscht sei. Die düpierte Kulturdezernentin „bedauert“
– sie hat anscheinend auch sonst nicht viel zu sagen. Zu einem
derartigen Eklat kann es doch nicht kommen, wenn im Vorfeld einer
personellen Entscheidung entsprechend detaillierte Verhandlungen
geführt werden. Woher beziehen eigentlich Oberbürgermeister
und Kulturdezernentin ihre Qualifikation als politische Führungskräfte?
Wenn ein Künstler womöglich inakzeptable Forderungen stellt,
lässt sich eine Entscheidung für oder wider doch sicher
bei den Verhandlungen herbeiführen. Die gleiche Inkompetenz
in Hamburg, wo eine nun wahrhaft völlig überforderte ehemalige
Boulevard-Journalistin als Kultursenatorin dilettiert: Den renommierten
Generalmusikdirektor lässt sie gehen, mit dem amtierenden Intendanten
wird (angeblich) gar nicht erst gesprochen: Er darf auch abziehen.
Für die beiden kommt jetzt eine nicht besonders aufregende
Dirigentin in Doppelfunktion von Musikdirektor und Intendant –
wo jeder halbwegs Sachkundige doch weiß, dass die Anforderungen,
die ein großes Opernhaus heute an eine Theaterleitung stellt,
von einer Person kaum zu erfüllen sind. Ein Haus-Musikchef
hat genug damit zu tun, das musikalische Niveau zu steigern und
zu kontrollieren. Der zuständige Theaterträger sollte
das eigentlich aus eigenen oder fremden schlechten Erfahrungen kennen.
Aber das ist vielleicht das allergrößte Ärgernis
in den vielen Diskussionen und Streitigkeiten über „die
Kultur“: Das Ärgernis trägt den Namen „Kulturderzernent(-in)“,
von Fall zu Fall auch gegen Kultursenator(-in) oder Kulturminister(-in)
auszutauschen. Die Gründe für das Ärgernis sind dabei
differenziert zu betrachten. Einem ungeeigneten Kulturdezernenten
ist die Unfähigkeit nicht unbedingt vorzuwerfen. Analog zur
Parabel vom Mörder und Ermordeten und der Frage, wer nun am
Tod eigentlich schuld sei, könnte man auf die Kultur übertragend
fragen: Wer hat denn diese hilflosen, gern ungebildeten, unerfah-renen,
meist namenlosen Politiker ins politische Rampenlicht gehoben? Parteilosigkeit
bevorzugt, damit den anschließend Geprügelten nur keine
parteipolitische Mehrheit und damit auch parlamentarische Macht
zuwächst.
Für diesen Zustand tragen andere die politische Verantwortung,
denen die kostenintensive Kultur oh-nehin ein Dorn im Sparauge ist,
weil sie in ihrer unterentwickelten Vorstellungskraft nicht begreifen
können, dass „Kultur“ für eine Gesellschaft
das er-ste formkonstituierende Element bedeutet. Wer diese Funktion
von Kultur nicht zur Kenntnis nehmen will oder kann, wird auch nicht
die Gründe erkennen, warum die gegenwärtige Misere so
heftig ausgebrochen ist.