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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 11
53. Jahrgang | Februar
Forum
Musizieren als Übemethode …
Eine wirklich vergnügliche Kontroverse: Martin Gellrich behauptet,
vielleicht ein wenig krude, das pianistische Niveau sei im 19. Jahrhundert
höher gewesen als heute, weil die Menschen wahnsinnig lange
geübt hätten (nmz
6/03, S. 48), Andreas C. Lehmann, expertiseforschungsgewappnet,
hält kräftig dagegen. Heute sei alles besser, weil sich
„zielgerichtetes Üben“ („deliberate practice“)
durchgesetzt habe (nmz
9/03, S. 12). Lassen Sie mich beide Positionen für eine
eigene These nutzen.
Auch ich höre auf alten Aufnahmen, welch singuläre pianistische
Leistungen aus dem 19. ins 20. Jahrhundert ragen. Auch ich lese
in vielerlei Quellen, wie viel Zeit vor 150 Jahren am Instrument
verbracht wurde. Tägliche Übzeit schlicht mit pianistischem
Niveau gleichzusetzen, das allerdings ist waghalsig… Herr
Lehmann stößt sich daran. Er findet Herrn Gellrichs Text
methodisch unsauber gearbeitet und wissenschaftlich unhaltbar.
Zitat: „Nach Erkenntnissen der Kognitionswissenschaft, an
denen sich auch die Expertiseforschung orientiert, ist der Mensch
lediglich in der Lage, als Erwachsener vier bis fünf Stunden
lang (als Kind vermutlich weniger) aufmerksam und konzentriert zu
arbeiten. Aus diesem Grund werden Fluglotsen, Busfahrer und andere
Berufstätige in Beschäftigungen, in denen fortwährende
Wachsamkeit gefordert ist, in ihren Arbeitszeiten stark begrenzt
und streng überwacht.“ Busfahrer müsste man sein:
vier bis fünf Stunden arbeiten – und ab nach Hause! Oder
macht der manchmal Pause und fährt anschließend weiter?
Meine These: Gellrich hat im Prinzip recht, Lehmann liefert unfreiwillig
die Begründung. Das pianistische Niveau war im 19. Jahrhundert
höher als heute, eben weil nicht so eindimensional „zielgerichtet“
geübt wurde. (Das gilt auch für pianistische Lichtgestalten
des 20. Jahrhunderts: Der junge Art Tatum spielte stundenlang Vierhändig-Aufnahmen
nach, der junge Vladimir Horowitz Wagner-Partituren.)
Martin Widmaier, Mainz
Zum Weiterlesen
Biesenbender, Volker: Wieviel „Kreatur“ braucht’s
eigentlich zum Kreativsein? Vom improvisierenden Umgang mit klassischer
Musik, in: Üben & Musizieren 3/95
Klug, Heiner: Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität.
Praxis, Vermittlung und Theorie des Klavierspiels in der Medienperspektive,
Essen 2001 (Verlag Die Blaue Eule)
Widmaier, Martin: Musizieren als Übmethode. Kultur statt
Kulturkampf, in: Üben & Musizieren 6/03