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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 48
54. Jahrgang | Oktober
Wortlaut
Wortlaut
Manchmal erschrecken wir
Anlässlich des 70. Geburtstages von Helmut Lachenmann (geb.
27.11.1935) gab es diesen Sommer zahlreiche Aufführungen seiner
Musik, unter anderem in Schwaz, Frankfurt, Darmstadt und Luzern.
Der einstige Luigi Nono-Schüler zählt zu den wegweisenden
Komponisten der Avantgarde und war diesen Sommer Composer-in-Residence
beim Lucerne Festival. Unter der Moderation des Musikwissenschaftlers
Ulrich Mosch, der an der Paul-Sacher-Stiftung Basel die Sammlungen
Lachenmann und Rihm betreut, traf er sich im Kleinen Saal des Kultur-
und Kongresszentrums Luzern (KKL) mit dem Komponistenkollegen Wolfgang
Rihm und dem Psychotherapeuten Udo Rauchfleisch zu einer Diskussionsrunde.
Das Thema: „Das Neue hören“. Im nmz-„Wortlaut“
zwei kurze, aber bemerkenswerte Ausschnitte aus diesem eineinhalbstündigen
Gespräch.
Künstlergespräch
in Luzern: Unter der Leitung von Ulrich Mosch (nicht auf
dem Bild) sprechen (v.li.) Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann
und Udo Rauchfleisch über das Neue in der Musik. Foto:
Georg Anderhub
Helmut Lachenmann: Ich setze mich doch nicht an
meinen Arbeitstisch und sage: „Machen wir mal was Neues“,
sondern ich gehe davon aus, dass etwas Neues entsteht, wenn ich
intensiv mit meinem Intellekt, meiner Intuition, meinem ganzen Sensorium
arbeite, wenn ich einfach lebendig bin. Der Begriff Neue Musik wäre
überflüssig, wenn er selbstverständlich wäre.
Er sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber wir klammern
uns an Formen, in denen wir uns glücklich und geborgen fühlen
und die in gewisser Weise auch schon erstarrt sind. Damit kreativ
umzugehen heisst, aus der Verkrustung herauszufinden.
Wolfgang Rihm: Ich glaube, dass dieses Neue, wenn
man es verdinglicht auffasst, genauso ein Aufenthaltsort im Vertrauten
werden kann. Denn wenn jemand auf das Neue eingeschworen ist, kennt
er es ja schon und ist in keiner Weise mehr überrascht, wenn
wirklich Neues eintritt. Er wird, wenn wirklich Neues eintritt,
sagen, das sei nicht das Neue. Er glaubt, das Neue komme von vorne,
dabei tritt es von hinten ein, und er sieht es nicht, weil er die
ganze Zeit in die Richtung seines Neuen blickt. Diese Dinge sind
für mich ungemein plastisch an solchen Orten erlebbar, wo das
Neue gepflegt wird, wo sich Künstler im Zeichen des Neuen treffen.
Sie werden, wenn etwas wirklich Neues eintritt, sofort dagegen eingestellt
sein, weil sie es nicht als das Neue, das sie bereits definiert
haben, erkennen.
Helmut Lachenmann: Ich bin doch optimistisch,
dass alle neugierig sind, dass jeder interessiert ist, aus seinem
warmen Bettchen mal rauszukommen und zu gucken, was da draußen
passiert. Natürlich kann er nach dem Motto reagieren: „Wasch
mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“ Wenn u udann ungewohnte
Musik erklingt, zuckt der Neugierige doch zusammen, oft auch die
Komponisten selbst, mich eingeschlossen. Wir erschrecken man-chmal
selbst vor dem, was wir da angerichtet haben.
Wolfgang Rihm: Ohne diesen Grundoptimismus wären
wir verloren. Die Unsicherheit, die viele Hörer haben, kommt
daher, dass sie glauben, sie müssten, um zu Kunst in Beziehung
zu treten, erst mal die und die Bücher gelesen, die und die
Bildung und ein paar Turnübungen noch dazu hinter sich gebracht
haben. Die Begegnung mit der Sache selbst aber ist ein Primärerlebnis.
Bitte beachten Sie die Artikel zu Helmut Lachenmann auf den Seiten
5 und 41.
Auch in der Novemberausgabe wird uns das Thema Helmut Lachenmann
und komponieren heute schwerpunktmäßig beschäftigen.