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nmz-archiv
nmz 2006/05 | Seite 1
55. Jahrgang | Mai
Leitartikel
Wenn der Mensch sie will, kommt auch die Kunst
Wie man das Tautologische an der Musikvermittlung verhindert
· Von Martin Hufner
Das Thema „Musikvermittlung“ steht mittlerweile ununterbrochen
auf der Agenda von Musikpädagogen, von Musikverbänden
und musikalischen Institutionen. Anlässlich des 50. Geburtstages
der neuen musikzeitung hatte man sogar eine Rubrik mit dem Titel
„Musikvermittlung“ eingerichtet. Initiativen von Verbänden
sind vielfältig, Orchester und Bühnen unternehmen unterschiedlichste
Versuche, Musik zu vermitteln. Musik vermittelt wird freilich auch
ohne diese Intitiativen fortlaufend. Das Radio vermittelt Musik,
das Fernsehen vermittelt Musik. Musik muss an den Mann und die Frau,
an Kinder wie an Menschen älteren Semesters gebracht werden.
Dahinter stehen häufig auch ökonomische Absichten, aber
das ist nicht überall der Fall und nicht wesentlich. Dabei
hat man jedoch lange Zeit vergessen oder weggeblendet, was hier
an wen und wieso vermittelt werden müsse. Hat Musik Vermittlung
überhaupt nötig, oder ist sie nicht vielmehr selbst schon
ein Vermittlungsorgan? Sie vermittelt innerhalb der Gesellschaft
deren Mitglieder untereinander. Musik ist nämlich doch Vermittlung
an sich, vermittelte Musik dagegen wird schnell nur zu einer Musikvermittlungsmusik.
Und darin könnte ein Bruchpunkt der gegenwärtigen Situation
und Bedeutung von Musik in der Gesellschaft liegen. Sie scheint
nicht mehr ein Wert an sich zu sein und sie hat selbst offenbar
kaum noch genug bindende Kraft für sich.
Theo Geißler mahnte im November 2004 hier (nmz
11/2004, Seite 25) und vor der Generalversammlung des Deutschen
Musikrats an, dass man das Feld der Musik-Vermittlung weiter denken
müsse als es bisher geschehe. Martin Tröndle hat einige
Monate später an Geißler anschließend in der nmz
geäußert, „Musikvermittlung heißt deshalb
auch der Musik Gehör verschaffen“ (nmz
06/2005, Seite 24). Damit ist aber ein Wesentliches verkannt,
dass nicht Musik vermittelt werden muss, sondern dass sich Menschen
mittels Musik ausdrücken und miteinander kommunizieren. Musik
ist im besten Sinne Vermittlung an sich. Deshalb sei auf eine Fragestellung
verwiesen, die nicht aus der Musikpädagogik und -didaktik stammt,
sondern aus der politischen Ästhetik.
Der Autor und Büchner-Preisträger Peter Weiss hat in
seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ mehrfach
darauf hingewiesen, dass Kunst und Menschen in einer permanenten
Wechselwirkung stehen – in gegenseitiger Zuteilung und Forderung.
Nicht die Kunst selbst ist zu vermitteln, sondern der Mensch, der
sich selbst rückwirkend in Kunst und durch sie vermittelt.
Weiss schrieb: „Auch uns, so war es von fortschrittlicher
Seite zu vernehmen, sollte das, was sich Kultur nannte, zugute kommen,
(...) doch gelangten wir damit noch nicht zu einem Bild, das uns
selbst enthielt (...). Es hing damit zusammen, (...) dass uns von
außen her, von oben her, nichts beeindrucken konnte, solange
wir gefangen gehalten wurden, jeder Versuch, uns einen Ausblick
zu schenken, konnte nur peinlich sein, wir wollten keine Zuteilungen,
kein uns zugemessenes Stückwerk, sondern das Ganze. (...) Alles,
was auf Gedichte, Romane, Gemälde, Skulpturen, Musikstücke,
Filme und Dramen Bezug nahm, musste erst politisch durchdacht werden.
Dies war ein Umhertasten, wir wussten noch nicht, wozu das Aufgefundene
gut sein sollte, verstanden nur, dass es, um sinnvoll zu werden,
aus uns selbst kommen musste“ (Seite 55f.).
Gerade dies scheint vollkommen aus dem Blickfeld geraten zu sein:
dass nämlich Kunst auf Menschen fällt, die etwas von Kunst
wollen und nicht umgekehrt, dass man sie mit Kunst beschäftigt,
ablenkt oder gar ideologisch ein- und zurichtet. Die Vermittlung
von Kunst muss aus den Menschen selbst kommen. Die von Weiss angesprochene
Situation spielte in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als
man noch einigermaßen sinnvoll von politischen Klassen sprechen
konnte, ferner in einer Zeit, als die spätbürgerliche
Kunstauffassung vorherrschend war; als Kunst vorrangig als bloß
schöner Schein und Kulturleistung ohne nähere Bestimmung
definiert war. Kunst musste nutz- und haltbar gemacht werden, soll
sie nicht auf den Zustand purer Dekoration oder magischer Norm zurückfallen.
Heute dagegen stellt es sich vielmehr so dar, dass die Gesellschaft
zu einem homogenen Block zusammengeschrumpft ist, der sich allein
im Warenkonsumismus und damit auch im Kunstkonsumismus verwirklicht
– und dann freilich stehen MTV-Spots neben und gegen „Konzerte
für Kinder“. Auch gibt es weder das Proletariat wie in
dem Roman von Peter Weiss, noch gibt es die bürgerliche Kultur
der öffentlichen Selbstverständigung vermittels Kunst.
Diese Institutionen scheinen tot. Damit wird Kunst zum bloßen
Objekt der Spekulation, so wie man mit Kapital spekulieren kann.
Kulturmanagement heißt dafür die gefundene schlechte
Umgangsform. Kulturspekulantentum wäre ein weitaus treffenderer
Begriff. Musikvermittlung, die nur Töne vermittelt, aber nicht
die Kunst und ihre Sprengkraft, ist eine Spielart davon.
So verwundert einen auch nicht die neuerliche Diskussion um den
Begriff einer Leitkultur. Denn wenn die Gesellschaft sich ihre Kultur
aus ihrer eigenen Notwendigkeit heraus nicht mehr bilden kann oder
sie ihr durch Privatisierung entrissen wird, dann muss auch diese
erst von oben definiert oder vom Markt als seiner Leistung verkauft
werden. Die Diskussion um die Studie zur musikalischen Bildungsoffensive
der Konrad-Adenauer-Stiftung mit ihrem Leitwerke-Kanon legt davon
beredtes Zeugnis ab. Der Kulturkritiker Matthias Greffrath hat kürzlich
in einem Radio-Essay mit dem Titel „Der Geist der Leitkultur“
diese aktuelle Situation erfasst. Wer in der Bundesrepublik Deutschland
sozialisiert wurde, dem will es, sagt Greffrath, „schlechterdings
nicht in den Kopf, dass der Staat nicht einmal mehr die Mittel aufbringt
für ein Bildungswesen, das alle jungen Bürger für
die Anforderungen der Wissensgesellschaft vorbereitet. Dass am Ende
von 100 Jahren kollektiver Arbeit die städtischen Einrichtungen
verkauft werden, dass ein Bad- vier, ein Zoobesuch siebzehn Euro
kostet, dass Autobahnen privatisiert werden und dass das Volksparkstadion
jetzt AOL-Arena heißt. Kurz: Dass der öffentliche Reichtum,
der mit den Steuergeldern von Generationen angeschafft wurde, verkauft
wird, während gleichzeitig die Profite der Exportindustrie
zweistellig wachsen, die Löhne sinken und die Steuerbelastung
der Unternehmen und des Mittelstandes fällt. (...) Nicht die
Höhe von Hartz IV ist der Zynismus unserer Gegenwart. Der besteht
darin, dass Millionen von Menschen unter ihren menschlichen Möglichkeiten
leben, dass wir es uns leisten, nach über 200 Jahren industriellen
Fortschritts und öffentlicher Erziehung die sozialen Gestalten
des Wanderarbeiters, des Dienstmädchens, des Tagelöhners
und des Fürsorgeempfängers wieder zum Leben zu erwecken
und die Schulen der Nation verkommen lassen.“
Schulen der Nation, das ist sicher etwas, was man noch im besten
Sinne den Initiativen zur Musikvermittlung beistellen kann. Wenn
man am Tag der Offenen Tür der Berliner Philharmoniker erleben
kann, dass es erstens ein Interesse an dieser Musikkultur gibt,
und dass man zweitens sieht, dass die Institution im gesellschaftlichen
Leben angekommen ist.
Die Räume und Veranstaltungen dieses offenen Tages waren durchweg
gut besucht. Aber es fehlte in einem guten Sinne der vermittelnde
Zeigefinger. Die Institution gibt etwas zurück, was sie vordem
erhalten hatte: Vertrauen und Kunst. Und das Publikum holt sich
zurück, wonach es ihm dürstet: Kunst, Sinnlichkeit, Aufmerksamkeit,
Vergnügen und Glück. Es, das Publikum, erobert sich die
Kunst zurück, sie empfängt es nicht als Almosengabe aus
den Händen von gutmeinend-menschelnden Pädagogen oder
Kulturvermarktern.
So auch darf man die Intiative „Zukunftsmusiker“ des
dm-Markt-Chefs, Götz Werner, verstehen. Als Bürger dieses
Staates sieht er sich in einer selbstgewählten Bringschuld
und er versucht mit dieser Initiative Instrumentalunterricht kostenlos
anzubieten. Wohlwissend, dass Musik als auch bürgerschaftlich
vermittelnde Institution des Gemeinwesens, zu geistigem und physischen
Wohlergehen, nicht nur der Einzelnen sondern Aller, beitragen kann.
„Hartz IV ist offener Strafvollzug. Es ist die Beraubung
von Freiheitsrechten. Hartz IV quält die Menschen, zerstört
ihre Kreativität“, schimpft er in einem Stern-Interview.
Während die bloß musikvermittelnden Pädagogen einfach
zu kurz greifen, gehen die Schrauben der Politik bereits viel zu
tief hinein in das Herz einer bürgerschaftlichen Gemeinschaft
und zerstören nachhaltig ererbtes Kultur- und Kunstverständnis
– und damit Selbstverständnis.
Von den öffentlichen Institutionen wie dem öffentlich-rechtlichen
Rundfunk ist leider auch kaum mehr etwas zu erwarten, wenn sie sich
weiter zu einer inhaltsleeren, von Meinungsforschungsinstituten
und Unternehmensberatern zur Kulturbürokratie degradieren lassen.