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nmz-archiv
nmz 2005/06 | Seite 24
54. Jahrgang | Juni
Musikvermittlung
Variation oder Invention?
Was sollte, was kann Musikvermittlung leisten
Musikvermittlung, der neue Trendbegriff im deutschsprachigen Konzertleben,
ist durch seinen – wie das bei Trendbegriffen üblich
ist – inflationären Gebrauch durch allerlei Unschärfen
und Vorurteile geprägt. „Musikvermittlung ist ein Mode-
und kein Zauberwort,“ schreibt Barbara Stiller zur Eröffnung
der Rubrik Musikvermittlung in der neuen musikzeitung (nmz,
2003/05, S. 14) und Theo Geißler ergänzt eineinhalb
Jahre später, dass der Begriff „inflationär und
schwammig, als flotteres Synonym für die angeblich etwas angestaubten
Begriffe ,Musikpädagogik‘ oder schlimmer ,Musikerziehung‘
gebraucht (wird)“ (nmz, 2004/11, S. 25). Bedeutet Musikvermittlung
also nichts weiter als Konzertpädagogik (Barbara
Stiller, nmz, 2003/05, S. 14)? Sollten die Kritiker damit Recht
behalten, dass sich hier ein paar Musikpädagogen bloß
unter neuem Label verkaufen? Um das herauszufinden, soll versucht
werden den Begriff Musikvermittlung und seinen Inhalt näher
zu umreißen. Dazu wird Theo Geißlers Forderung gefolgt,
das Feld der Musikvermittlung weiter zu denken als das bisher der
Fall war (nmz 2004/11,
S. 25).
Begriffsklärung
Schon im Jahr 1713 hatte der Schriftsteller und Musiker Johann
Mattheson darauf hingewiesen, dass man in Privatkonzerten über
das Dargebotene Gespräche führen sollte, um mehr musikalisches
Verständnis zu wecken. Doch diese Anregung stieß nur
auf geringes Interesse. Das Kunstwerk sollte nämlich nicht
rational „gemacht“, sondern „rein“, das
bedeutete „geschaffen“, in Erscheinung treten.1
Der Genuss wurde der Anstrengung des „Erarbeitens“ vorgezogen.
Diese Einstellung des Publikums, das mehrheitlich vom Ereignis gefesselt
war und weniger vom Gehalt des Aufgeführten, veränderte
sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Als Folge der Jugendbewegung
um 1920, die sich gegen die Institution des bürgerlichen Konzerts
wandte und eine Verbindung von „Kunst und Leben“ forderte,
entstanden die Bestrebungen der pädagogisch orientierten Kinder-
und Jugendkonzerte, die jedoch in Deutschland, im Gegensatz zu den
USA oder Großbritannien, nicht besonders ausgeprägt waren.
Erst in den 1980er Jahren folgte auf die Theater- und Museumspädagogik
der Begriff der „Konzertpädagogik“.2
Die erste umfassende wissenschaftlich-theoretische Arbeit auf dem
Gebiet der Konzertpädagogik verfasste Anke Eberwein (1998),
in der sie die konzertpädagogischen Veranstaltungen von 76
deutschen Orchestern analysierte. Sie definiert Konzertpädagogik
als eine „[...] Veranstaltungsform des öffentlichen Kunst-
und Kulturlebens, [...] in der durch besondere Präsentationskonzepte
der Zugang zu traditionellen und aktuellen Kunstwerken erleichtert
werden soll“.3
Vermittlung jedoch braucht
langfristige stete Bemühung. Ein einziger Kinderworkshop
wird selten nachhaltige musikalische Elementarerfahrungen
auslösen. Ein ausgeprägtes Beispiel konzertpädagogischer
Arbeit war die Aufführung der Oper „Brundibár“
bei der Biennale Bern 2001. Foto: Benjamin Reusser
Musikvermittlung wird momentan des häufigeren auf den Begriff
Konzertpädagogik verkürzt mit dem Hinweis, Musikvermittlung
sei die unscharfe Übersetzung des englischen Terminus (music)
education programme (Wolfgang Rüdiger, nmz 2004/06, S. 29).
Wörtlich übersetzt handelt es sich bei education programme
wohl eher um Musikerziehung. Da dieses Wort etwas schulmeisterlich
daherkommt, wird zumeist der etwas moderner anmutende Begriff Konzertpädagogik
verwendet.
Mit Blick auf die hier skizzierte historische Linie scheint es
für die musikpädagogische Arbeit im Rahmen des Konzerts
treffender, weiterhin den bisher gebrauchten Begriff Konzertpädagogik
und nicht Musikvermittlung zu verwenden. Auch sprach-logisch gibt
es wenig her, das selbe Ding mit zwei verschiedenen Begriffen zu
bezeichnen. Um also den Terminus Musikvermittlung näher zu
beobachten, muss zwischen ihm und dem der Konzertpädagogik
unterschieden werden. Dazu soll zunächst kurz auf die education
progammes eingegangen werden, denen hierzulande momentan viel Aufmerksamkeit
zukommt.
Da in den anglophilen Ländern die öffentliche und private
Förderung oft an die Durchführung musikpädagogischer
Arbeit gekoppelt ist, besitzen die education progammes dort eine
doppelte Notwendigkeit: zum Ersten dienen sie der „Konsumentenentwicklung“,
also dazu zukünftige Hörer zu gewinnen (audience development)
und zum Zweiten, sich zum Erhalt öffentlicher und privater
Finanzmittel zu legitimieren. Dass die education progammes in den
anglophilen Ländern entstanden sind, ist also kein Zufall,
sondern Reaktion auf die dortigen kulturpolitischen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen. Der Betriebswirtschaftler würde hier von
Ressourcensicherung auf Seiten des Absatz- wie des Beschaffungsmarktes
sprechen.
Ungeachtet dieser gesellschaftspolitischen und ökonomischen
Aspekte, sehen sich Musikerpersönlichkeiten aus dem anglophilen
Raum wie beispielsweise Leonard Bernstein oder Sir Simon Rattle
selbstverständlich als Botschafter der Musik, die professionell
und leidenschaftlich für ihre Sache werben. Musikvermittlung
ist aus dieser Perspektive vor allem eine (notwendige) Einstellungssache,
die sich darin zeigt, für die Musik Aufmerksamkeit zu wecken:
beim Publikum, den Geldgebern, den Medien und auch beim musikalischen
Nachwuchs. Jüngs-tes Beispiel dieser Aufmerksamkeitsweckung
ist die virtuos bediente Klaviatur des Medienbetriebs der Berliner
Philharmoniker mit dem Education-Projekt und dem gleichnamigen Film
„Rhythm is it!“.
Es ist wenig zielführend, Musikvermittlung auf die Begriffe
Konzertpädagogik, Musikpädagogik oder education progamme
zu verkürzen. Musikvermittelnde Arbeit betrifft alle potentiellen
Publikumsschichten – also nicht nur die unter 16-Jährigen
– und sie ist inhaltlich nicht ausschließlich auf pädagogische
Arbeit zu beschränken. Selbstverständlich ist die heranführende
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an klassische Musik außerordentlich
wichtig, dies belegen sämtliche empirische Studien. Gerade
aber hinsichtlich der demographischen Entwicklung in Deutschland
und Europa (Umdrehung der Alterspyramide) müssen verstärkt
Angebote für Ältere entwickelt werden. Bei der Diskussion
um die Pisa Studie wie der allgemeinen gesellschaftlichen Fokussierung
auf Jugendlichkeit geraten diese Bevölkerungsschichten momentan
aus dem Blickfeld. Dabei sind sie nicht nur zahlungskräftiger
als junge Familien, sondern die über 50-Jährigen stellen
in wenigen Jahren über 50 Prozent der Bevölkerung dar
(http://www.destatis.de/basis/d/bevoe)
und sie verfügen über ein wichtiges Kapital: freie Zeit.
Musikvermittlung heißt dann, einem heterogenen Publikum plurale
Zugänge und Verstehensofferten anbieten zu können, damit
eine Annäherung, ein Verständnis gelingt und vielleicht
Leidenschaft für die Sache entbrennt. Zusammenfassend muss
deshalb gesagt werden, dass mit Blick auf die vielzitierten gesellschaftlichen,
kulturpolitischen, bildungspolitischen et cetera Veränderungen
sich Musikvermittlung – im wörtlichen Sinne des Vermittelns
von Musik – auf die viel umfassendere Frage konzentrieren
muss: Wie findet klassische Musik ein Publikum?
Die Arbeitsfelder
Dass ein Konzert von selbst ein Publikum findet, war nie selbstverständlich.
Allerdings wurde durch ihr bildungsbürgerliches Selbstverständnis
das Konzert – und damit auch die Musikausübenden –
als soziales Forum von einer tragenden gesellschaftlichen Schicht
gestützt. Nutzen stiftete dies beiden Seiten: Das Bürgertum
nutzte das Konzert als Ort der Kunst (ästhetische Erfahrung)
und als Ort der sozialen Identifikation (Unterhaltung, Repräsentation
et cetera); die Musikschaffenden (Komponisten, Musiker, Veranstalter,
Agenten et cetera) erhielten dafür die notwendigen Ressourcen,
um ihre Kunst und deren Institutionen weiter auszudifferenzieren.
Diese Symbiose verlief über drei Jahrhunderte selbstverstärkend.
Die steigende Anzahl und die steigende Kapazität der Konzertorte,
die Pluralisierung und Verfeinerung der Darbietungsformen sowie
die wachsende Autonomie des Konzertwesens sind nicht nur Index für
die Systementwicklung: die Faktoren wirkten wiederum auf die Attraktivität
der Darbietung ein.4
Dieser Trend der quantitativen und qualitativen Intensivierung
des Forums Konzert ist im 20. Jahrhundert abgebrochen, die „bürgerliche
Aufführungspraxis um 1900“ des Konzertwesens ist in zentralen
Bereichen des Musikbetriebes an ihre Grenzen gestoßen (vgl.
Reinhold Brinkmann / Wolfgang
Rihm, nmz, 6/2001, S. 51.). Die Variante „Neue Musik“
hat nur bedingt Resonanz gefunden. Die Bruchstelle, die sich zwischen
den ausübenden Künstlern und einem zunehmend desinteressierten
Publikum auftut, braucht ein Moment der Moderation. Musikvermittlung
kann hier mit verschiedenen Werkzeugen ansetzen, um den drohenden
Riss durch neue Verschränkungen entgegenzuwirken. Die Arten
der Verschränkungen sind höchst verschieden, sie zielen
jedoch alle auf eine Bindung des Publikums an eine Kunstform ab.
Dabei gilt, dass in inhaltlicher und sozialer Hinsicht die potentiellen
Besucher Relevanz – welcher Art auch immer – für
ihre Lebenswirklichkeit erschließen können müssen
(vgl. Tröndle 2003a: 26ff.).
Musikvermittlung heißt deshalb auch der Musik Gehör
verschaffen. So kurz diese Definition ist, so differenziert gestalten
sich die musikvermittelnden Konzeptionen. In einem ersten Entwurf
sollen die dazu notwendigen Arbeitsfelder kurz vorgestellt werden.
Selbstverständlich überlappen sich die Arbeitsfelder an
ihren Rändern und idealerweise ergänzen sie sich gegenseitig.
1 Salmen, Walter (1988): Das Konzert. Eine Kulturgeschichte,
München: Beck, S. 222.
2 Siehe Gruhn, Wilfried (1988): Musik für Kinder –
Kinder für Musik. Was bedeuten Kinderkonzerte für Kinder?
In: Musik & Bildung 3/88.
3 Eberwein, Anke (1998): Konzertpädagogik. Konzeptionen von
Konzerten für Kinder und Jugendliche, Hildesheimer Universitätsschriften
Bd. 6, Hildesheim, S. 10.
4 Tröndle, Martin (2003): Das Konzertwesen: Eine Geschichte
der Aufmerksamkeit. In: Selbstmanagement im Musikbetrieb: Handbuch
für Musikschaffende. Hrsg. v. Petra Schneidewind und Martin
Tröndle, Bielefeld: Transcript, S. 26ff.