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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 1
55. Jahrgang | Oktober
Leitartikel
Bildungs-Ruck
Wenn Manfred Trojahn
in seinem Interview auf Seite 13 davon spricht, dass die traditionellen
Werte der Gesellschaft in Vergessenheit geraten sind, dann gibt
das paradoxerweise Anlass zur Hoffnung, denn ohne Vergessen gibt
es kein Wiederentdecken. Die Berliner Rede von Bundespräsident
Horst Köhler nehmen wir als hoffnungsvolles Anzeichen für
die Wiederentdeckung von Bildung und Erziehung durch die Politik.
Ob der von Köhler gewünschte Ruck durch die Gesellschaft
allein schon durch einen Satz wie „Gute Bildung geht nicht
in erster Linie von gesellschaftlichen Bedürfnissen oder den
Anforderungen des Arbeitsmarktes aus“ entsteht, bleibt offen.
Ein Anfang ist allerdings gemacht. Eine Einsicht des Bundespräsidenten,
die er mit John F. Kennedy teilt – „Es gibt nur eine
Sache auf der Welt, die teurer ist als Bildung – keine Bildung.“
– zeigt das ganze Dilemma auf, in das eine Gesellschaft gerät,
wenn sie die wichtigsten Ressourcen über die sie verfügt,
nämlich die geistig-kreativen, vernachlässigt.
Bildungskanons, wie sie etwa die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer
Studie „Bildungsoffensive durch Neuorientierung des Musikunterrichts“
fordert, sind hilflose Versuche, ein einheitliches Bild von Musik
und Kultur zu restaurieren, das es im Medienzeitalter und in einer
Zeit beschleunigter Akkulturationsprozesse längst nicht mehr
geben kann [Siehe dazu auch die Diskussion
der Studie auf den Seiten 3-5 und Hermann
Josef Kaiser Erwiderung auf Klaus
Veltens Gedanken aus dern letzten Ausgabe der nmz; Anm. der
Internet-Redaktion].
Ziel von Erziehung kann nicht darin bestehen, einfach zu wiederholen,
was andere Generationen getan haben. Erziehung soll Menschen in
die Lage versetzen, Neues zu leisten. Das ist das oberste Lernziel.
Ob das an Beethoven, den Beatles oder Charlie Parker festgemacht
wird, ist zweitrangig. Kinder und Jugendliche mit Entdeckerlust
sind jedenfalls die beste Garantie dafür, dass Deutschland
eine Kulturnation bleibt. Anstelle eines Kanons sind folglich Lernsituationen
gefragt, die den Forscherdrang von Schülern mit „Food
for the Mind“ konfrontieren.
Eine tragende Rolle in diesem Prozess kommt einem Berufsstand
zu, der mit akuter Unterbesetzung zu kämpfen hat. Nach den
neuesten Zahlen des Deutschen Philologenverbandes steckt Deutschland
in der größten Lehrerversorgungskrise seit 30 Jahren.
Bis zu 16.000 fehlende Lehrer verursachen jede Woche Ausfälle
von etwa 1 Million Unterrichtsstunden. Ein Fiasko, wenn man bedenkt,
dass die entscheidenden Weichen für die geistige und soziale
Entwicklung des Menschen in dessen Kindheit und Jugend gestellt
werden.
Und das Positive? Die wenigen verbleibenden – oder besser:
die wenigen eingestellten – Musikpädagogen setzen sich
engagiert an Schule und Musikschule mit neuem Repertoire aus E-Musik,
Pop und Jazz auseinander. Wer wissen will, was in der Musikpädagogik
State of the Art ist, muss nur Ende September die Bundesschulmusikwoche
in Würzburg besuchen, die dieses Jahr ganz im Zeichen des Singens
steht. Damit aus dieser engagierten Basisarbeit aber ein Ruck wird,
der durch die Gesellschaft geht, müssen die Rahmenbedingungen
stimmen. Da hilft auch kein ängstlicher Blick auf die Berliner
Schuldenuhr. Denn wie, Herr Köhler, sagte schon John F. Kennedy?
„Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die teurer ist als Bildung
– keine Bildung.“