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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 1
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Leitartikel
Gleit-Kultur
Hurra: Kultur ist wieder in aller Munde. Sei es als Platzhalter
für noch zu schärfende Ideologien innerhalb des geschickt
zusammengeätzten teutschen Hauptwortes Leitkultur
(siehe auch Seite
4). Oder als Konfigurationsmerkmal der Berufsbezeichnung unseres
derzeit prominentesten Job-Hoppers: Bundes-Kultur-Minister a.D.
Michael Naumann. Dieses Amt gleich ganz abschaffen will aus machtkulturellen
Gründen Hans Zehetmair, Bayerns Kunst-Minister (eine Bezeichnung,
die man sich mal auf der Zunge zergehen lassen muss). Dabei stellt
für den föderalen Landesfürsten Zehetmair Naumanns
designierter Nachfolger Julian Nida-Rümelin doch nur ein weiß
Gott überschaubares Risiko dar. Regisseur Dieter Dorn nannte
ihn kürzlich das bestangezogene Stück Seife Münchens.
Gefährliche Konkurrenz droht dem Kunst-Minister eher aus den
eigenen Reihen: Wenn der Vorsitzende der bayerischen CSU-Landtags-Fraktion
Alois Glück, geprägt von bodenständiger Lederhosen-Leitkultur
markig formuliert, Minarette passten nicht in das liebliche Erscheinungsbild
alpenländischer Dorf-Kultur, könnte Zehetmair taktisch
geschickt allenfalls kontern, wie es denn dann um Synagogen stünde...
im Sinne seiner kulturellen Platzhirsch-Funktion.
Allergisch auf solche Kultur-Dominanz reagiert allein Bayerns Musikrats-Präsident
Wilfried Anton. Er hätte statt des Wortes Kultur
durchgängig gern den Begriff Musik eingesetzt
sieht man einmal von der Körper-Kultur ab, von der die Musik-Kultur
angeblich noch viel lernen kann. Das Lernziel heißt hier allerdings
nicht Kultur sondern Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Was
inzwischen fast dasselbe ist, wenn man sich zum Beispiel die programmatische
Zukunfts-Planung des Deutschen Musikrates einmal anschaut (siehe
Seite
10). Interessant: Über diese Haltung herrscht unter Kultur-Schaffenden
mittlerweile ein breiter Grund-Konsens.
Da ist man für die Zukunft gut beraten. Während nämlich
altbackene, inhaltlich bestimmte Kulturinstitutionen wie das Würzburger,
das Schweriner oder das Wuppertaler Musiktheater rettungslos den
Bach runter gehen, scheint das materielle Entwicklungspotenzial
zeitgeistiger kultureller Emanationen schier unendlich: Man denke
an die Big-Brother-Kultur, die eine Wertschöpfungs-Kette ungeahnten
Ausmaßes in Gang gesetzt hat: Es ist so geil, ein Arschloch
zu sein..., lautet der Titel des bereits dritten Chart-Stürmers
aus der Kölner Kultur-Schmiede RTL. Womit alle weiteren Fragen
zur ideologischen Konfiguration des Begriffes Leitkultur
wohl auf Dauer beantwortet wären.
Da erreicht uns die Nachricht, dass nicht zwei sondern zwei Millionen
BSE-infizierte Rinder an die bundesrepublikanische Bevölkerung
verfüttert worden sind... Glauben Sie nicht? Schade, so wäre
es wirklich einfach gewesen, die Gründe der deutschen Bildungskatastrophe
zu erklären.