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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 5
50. Jahrgang | November
Feature
Das abrupte Ende einer trügerischen Siesta
Der elfte September 2001 und seine Folgen für die Kultur · Von Claus-Steffen Mahnkopf
Die schrecklichen Bilder erreichten mich in Krakau. Zwei Tage zuvor besuchten meine Frau und ich den bösesten
Ort des 20. Jahrhunderts. In Auschwitz/Birkenau wollten wir das Unfassbare fassen und der Gemarterten und Ermordeten
gedenken. Im Hotel las ich die Lebenserinnerungen des Schindler-Mädchens Stella Müller-Madej und überlegte,
ob ich sie in mein zweites Musiktheater integrieren solle. Nach dem Abendessen drehten wir den Fernseher an,
damit ein Film uns ablenke. Doch es war kein Film. New York brannte wirklich und mit den Towers die ganze Welt.
Frei vom Boulezschen Diktum der Müdigkeit: Komponist
und Autor Claus-Steffen Mahnkopf. Foto: Charlotte Oswald
Seither geht es mir wie vielen Kollegen und Freunden. Man kann kaum arbeiten, ist gebannt nicht nur von den
sich überstürzenden Ereignissen, sondern von dem, was man zu erahnen beginnt: Die Kategorien haben
sich verschoben, der 11. September 2001 ist in der Tat eine welthistorische Zäsur, wir sind im freien Fall,
in Sekundenschnelle und vor den Augen von Milliarden im 21. Jahrhundert angekommen. Die gekaperten Flugzeuge
waren perfekt platziert, ihre Flugbahn rational kalkuliert: Das Böse zeigt seine Genialität,
es erreicht den größten Schaden mit einem Minimum an Mitteln, das Menschliche wird ausgeklammert,
als sei es niemals gewesen. Ich dachte unwillkürlich an die reibungsfreie Tötungsmechanik in Birkenau
und daran, dass es ohne den Holocaust kein Israel und auch kein palästinensisches Problem gäbe. Wie
schnell uns doch die Geschichte einholt.
Man möchte reagieren, gerade als Künstler. Ich spürte, dass meine Musik sich jetzt erst recht
ändern muss. Aber auch als Demokrat und Intellektueller wieder in Deutschland rief ich eine große
deutsche Zeitung an und bat, gefragt zu werden, wenn die Künstler gefragt würden. Komponisten werden
aber nicht gefragt. Nur einer hat es nolens volens geschafft, in alle Feuilletons und selbst in CNN zu kommen,
Karlheinz Stockhausen, der nun wirklich nichts zu sagen hatte. Der Einzige, der etwas sagt, sagt das Falsche
und bringt eine ganze Musikszene, deren Beitrag zur allgemeinen Kultur seit den 1970er-Jahren stetig sinkt,
in Verruf.
Aber sprechen wir noch nicht über die Auswirkungen auf die Kultur, die möglichen Konsequenzen für
die Neue Musik, auch nicht über die neuen Erfordernisse, denen wir Musiker uns stellen müssen. Noch
müssen wir begreifen, was geschah und geschieht. Dass sich die Kategorien verschieben, zeigt sich an allen
Ecken und Enden. Die Kommentare der Intellektuellen, der Schriftsteller und der befragten Wissenschaftler sind
nicht prinzipiell falsch, man spürt aber, daß sie nicht wirklich den Punkt treffen. Nicht selten
zeigen sie, dass sie es immer schon gewusst haben. Das zeigen vor allem die pausenlose Schelte an den Medien
und die Kritik an Amerika, den Amerikanern und dem Amerikanismus. Ich wäre der Letzte, der die kulturellen
und politischen Gefahren einer amerikanischen Interpretation der Globalisierung übersähe. Doch diese
Einsicht wird zunächst von einem Gefühl überlagert: wie froh ich doch bin, dass die Amerikaner
einst mit der Stürmung der Normandie das letzte Gefecht gegen Hitler einleiteten und uns so vor Stalins
Würgegriff bewahrten. Hätten wir ohne die aufgezwungene Westintegration Demokratie gelernt, lebten
wir heute ohne sie in einer doch respektablen Zivilgesellschaft?
Bezeichnenderweise wurden die klügsten Reden von Postkommunisten gehalten, analytisch konzis von Gysi
während des Berliner Wahlkampfes und weltpolitisch erwartungsheischend von Putin im Deutschen Bundestag.
Wir trügen alle Schuld, weil wir noch in den Kategorien des Kalten Krieges, mithin des 20. Jahrhunderts,
in Polaritäten und Unilateralismus dächten, so der russische Präsident, ganz offensichtlich Gorbatschowsche
Visionen weiterführend. Am 11. September wurden wir belehrt, dass die schmucken entpolitisierten und sich
ganz den Finanzmärkten und der Technologiebranche überlassenden 1990er-Jahre eine trügerische
Siesta waren. Der Augenblick der Politik hat sich mit aller Gewalt, aufgezwungen undank tausender Opfer zurückgemeldet.
Die Druckwelle hat in wenigen Wochen mehr an Politik ausgelöst als die letzten zehn Jahre zusammen. Nicht
zuletzt diese Geschwindigkeit überfordert uns und treibt uns eher zu den alten Ansichten anstatt zur Gunst
der Stunde: einzugestehen, dass man ratlos ist und deswegen lernen muss. Die Welt ist zwar kleiner geworden,
aber wenn wir sensibel die Balance zwischen besonnener Entschlossenheit und klugem Zweifel finden, dann haben
sich die Handlungsspielräume etwas erweitert. Und man beginnt zu lernen: Russland will NATO-Mitglied werden,
Scharon erkennt, dass der Westen ihm nicht die vielbeschworene uneingeschränkte Solidarität zuteil
werden lässt, Indien und Pakistan beginnen, miteinander zu sprechen, die arabische Welt wird wachsam, aber,
wie im Falle des Iran, auch selbstbewusst im positiven Wortsinne. Nicht zuletzt lernt Amerika, es kann nicht
anders. Genau das hatten die wenigsten erwartet.
Ein Kollege aus dem Neue-Musik-System meinte, um dieser Lerneffekte willen sei der Anschlag auf die USA nötig
gewesen. Krude Logik, meine ich. Was würde er sagen, ein Kernkraftwerk in seiner Nähe würde gesprengt?
Wie viel Fundamentalopposition bleibt uns in der wissenschaftlich-technischen Welt? Müssten wir Musiker
und nicht zuletzt die Komponisten nicht von unserer angemaßt privilegierten Position, immer ganz anders
denken zu dürfen, Abstand nehmen, um sich wieder der Realität anzunähern, der man in einem weiteren
Schritt sehr wohl das ganz andere entgegensetzen kann? Stockhausen wird von seinen faschistoiden Machtfantasien
nicht lassen. Aber wem ist er noch ein Vorbild?
Unüberschaubare Auswirkungen
Die Auswirkungen des 11. September auf die Kultur sind nicht zu überschauen. Erstaunlich ist aber, welche
Fragen plötzlich und wieder gestellt werden. Die von Peter Scholl-Latour verachtete Spaßgesellschaft
fängt mit dem Nachdenken an. Das Bedürfnis nach Verstehen, nach Selbstreflexion, nach Begegnung mit
dem anderen wird wachsen. Die ökonomisch brisanteren Zeiten, die vor uns liegen, dürfen aber nicht
zu weiterer Ausblutung der Kultur führen. Der Finanzboom der neoliberalen Phase hat ihr nicht genutzt,
und genau das muss sich ändern. Wenn das Geld nicht anwächst, müssen die Prioritäten neu
definiert werden. Die Postmoderne der 1980er-Jahre jeder mache, was ihm beliebt und der Neokonservativismus
der 1990er Jahre der Rang eines Künstlers bemisst sich nach seinem Marktwert sind vorbei.
Für deren luxurierende Dekadenz fehlt nicht nur die Legitimation, die sie ohnehin nie hatte, sondern die
materiellen Ressourcen. Auch diejenigen, welche sich an das falsch verstandene Mäzenatentum gewöhnt
haben, werden umdenken müssen. Das weitere politische Handeln wird nachdrücklich vom kulturellen Diskurs
abhängen. Investitionen im Bildungssektor werden unausweichlich sein.
Und die Neue Musik? In der letzten Ausgabe schrieb
Max Nyffeler: In Zukunft wird Musik wohl wieder mehr darauf hin befragt werden, mit welchen Deutungen,
Perspektiven und Antwortversuchen sie auf die geistigen Probleme der Gegenwart, die nun ersichtlich globale
Dimensionen annehmen, zu reagieren vermag. Genau von solch einer wachen und sensiblen Zeitgenossenschaft
hat sich das Neue-Musik-System der postmodernen und neoliberalen Phase mit seiner Gier nach Karriere, billigem
Effekt, Pseudomystik und blinder Genieästhetik immer weiter entfernt. Die Macher und die Gemachten kooperierten
vorzüglich. Nicht, dass das Experimentelle, das Herz der Neuen Musik, einzudämmen wäre, es muss
sich aber verstärkt an seinen Ergebnissen messen lassen. Nicht, dass jetzt in erster Linie Kompositionsaufträge
zu Themen wie Klonen, Genmanipulation und Nanoroboter zu vergeben wären. Nicht, dass wir der Kulturindustrie
nacheiferten, die doch ihr Geschäft auch ohne uns und viel besser versteht. Nicht, dass wir wieder zur
19.-Jahrhundert-Mentalität zurückkehrten, da wir uns doch des 21. Jahrhunderts annehmen müssen.
Eine Musik, die sich diesem stellt, wird nach dem Menschen, seinem Lieben und Leben, seinem Leiden und Sterben
fragen, danach, was Musik überhaupt noch vermag, wonach sich die Ohren sehnen, welche sich der Neuen Musik
ohne Wenn und Aber öffneten. Müsste nicht eine Musik gefunden werden, welche die Paranoia der Gegenwart
und die radikale Unsicherheit gegenüber der Zukunft in Form und Klang genauso fasst wie unser aller geschichtliche
Herkunft erinnernd wachhält? Man kann gespannt sein, was die musikalische Kreativität sich einfallen
lässt.
Eine europäische, eine nordatlantische Sicht? Das mag sein. Aber zeigt sich jetzt umgekehrt
an Weltmusik und interkulturellem Patchwork nicht deren imperialistischer Aspekt? Wir beginnen zu begreifen,
dass die fremde Kultur gerade nicht die eigene ist, aber eben deswegen respektiert und geschützt
werden muss. Vielleicht lernt die Menschheit nun, die Ideologien zu überwinden und zu einem Gleichgewicht
der Kulturen zu finden, in dem die westliche Welt genauso zu Hause ist wie China, der indische Subkontinent,
der Islam und das hoffentlich nicht mehr so hungernde Afrika. Und da sollte Europa nicht ohne eigene Musik dastehen.