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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 5
53. Jahrgang | November
Magazin
Musikalische Werkstatt mit Zukunftspotenzial
Erfolgreicher Start der Lucerne Festival Academy unter Pierre
Boulez
„Ich habe über Erziehung immer dieselben Ideen gehabt”,
sagt Pierre Boulez, „es muss schnell gehen – nicht brutal,
aber sehr hart. Wenn man einen Schock hat, fängt man an, sich
zu bewegen. Und das ist für die Studenten sehr gut, finde ich.”
Pierre Boulez hat genaue Vorstellungen über den Unterricht
mit Neuer Musik. Nicht lange drumherum reden, sondern gleich in
medias res. Aber nicht etwa mit pädagogischer Schmalspurkost,
sondern mit Stücken wie den monumentalen „Earth Dances”
von Harrison Birtwistle, dem komplex zerklüfteten „A
Mirror on Which to Dwell” von Elliott Carter, Schönbergs
Klavierkonzert und György Ligetis „Melodien”. Aus
solchen Brocken bestanden die drei Schlusskonzerte, mit denen sich
die Lucerne Festival Academy Mitte September nun erstmals dem Publikum
vorstellte.
Bildimpressionen aus der
Akademie 2004: Pierre Boulez mitten im Academy Orchester.
Foto: Priska Ketterer
Im vergangenen Jahr hatte es erst einmal einen Probelauf gegeben,
und nun galt es ernst. Rund 120 Stipendiaten aus aller Welt, die
sich per Vorspiel bewerben mussten und nicht älter als 28 Jahre
alt waren, fanden sich während rund drei Wochen in Luzern zur
gemeinsamen Arbeit an Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts
ein. Mit dem Instrumental- und Ensembleunterricht unter Anleitung
von Musikern des Ensemble Intercontemporain, mit flankierenden Seminaren
und Vorträgen, mit einem Meisterkurs in Dirigieren unter der
Leitung von Boulez und einer Klavierklasse von Maurizio Pollini
kam so im Rahmen des Luzerner Musikfestivals eine pädagogische
Initiative zustande, die weitherum einmalig ist und Modellcharakter
für die Zukunft hat.
Bei seinem Schockrezept hält sich Boulez an seine eigenen
Erfahrungen, die er machte, als er vor bald sechzig Jahren in Paris
bei Messiaen studierte: „Messiaen war damals der einzige provokative
Lehrer am Conservatoire, und diese Provokation finde ich sehr nötig.“
Wenn man ihm im Gespräch zuhört und seine Arbeit mit den
jungen Kursteilnehmern beobachtet, hat man den Eindruck, dass der
demnächst 80-jährige Komponist und Dirigent nichts von
der Frische seiner eigenen rebellischen Anfänge eingebüßt
hat. In jedem Moment präsent, voller Energie und mit der handwerklichen
Präzision des unerbittlichen Arbeiters, der er immer war, fordert
er ein Maximum an Einsatz von den Kursteilnehmern. Und der Geist
dieses „artisanat furieux“ überträgt sich
auf die jungen Instrumentalisten. Die Provokation spornt sie zu
ungewöhnlichen Leistungen an.
Es ist kaum zu glauben, dass 120 junge Musikerinnen und Musiker,
die vorher einander nicht einmal dem Namen nach kannten, in so kurzer
Zeit ein Orchester- und zwei Ensemblekonzerte auf die Beine zu stellen
vermochten, und das mit Werken, die ein breites Spektrum an Ausdrucksqualitäten
und Spieltechniken abdeckten. Der künstlerische Erfolg der
drei Schlusskonzerte unter der Leitung von Boulez und seinem Assistenten
Cliff Colnot war ein spektakulärer Beweis, dass sich die Zeiten
geändert haben. Auch wenn es sich an vielen Musikhochschulen
noch nicht herumgesprochen haben sollte: Für den heutigen Spitzennachwuchs
ist die Neue Musik der letzten Jahrzehnte zur Selbstverständlichkeit
geworden.
Körpergeste und Musik
Technische Probleme gab es bei den Teilnehmern offenbar kaum.
So konnte sich Boulez mit seinen Helfern beim Einstudieren ganz
auf die musikalische Gestaltung konzentrieren. Das pädagogische
Ziel lautet für ihn schlicht: „Die Leute müssen
die Schwierigkeiten überwinden und zur Musik kommen.“
Es ist charakteristisch für den Empiriker und Rationalisten
Boulez, dass er den musikalischen Sinn durch praktische, körperliche
Erfahrung zu erschließen versucht. Technische Form und musikalischer
Inhalt bilden bei der Interpretation eine Einheit. Die musikalische
Gestalt entsteht aus der konkreten Bewegung der Hand, des Körpers,
der Atemorgane heraus und kann durch diese kontrolliert werden.
In einer Methode, die so konsequent auf den bewussten Umgang mit
der Musik und mit den Mitteln der Interpretation ausgerichtet ist,
hat die Analyse einen bedeutenden Stellenwert. Zum Programm der
Festival Academy gehörte denn auch ein regelmäßiger,
auf Interpretationsbelange ausgerichteter Analyseunterricht. Eingebettet
in die fein aufeinander abgestimmten Kurse für Orchester- und
Ensemblespiel, die Dirigier- und die Klavierklassen war ein weiterer
Schwerpunkt: Zwei Komponisten, die vor einem Jahr den Auftrag für
eine Uraufführung im Rahmen des Lucerne Festivals 2005 bekommen
haben, der Franzose Christophe Bertrand und der Japaner Dai Fujikura,
konnten nun ihre ersten Entwürfe mit dem Orchester ausprobieren.
So erhielten sie die Möglichkeit, das bisher Geschriebene auf
seine Klangeigenschaften zu überprüfen und mit Orchester
und Festivalleiter zu diskutieren – ein seltenes Privileg
für einen jungen Komponisten.
Zu den Vorbildern der Festival Academy dürften amerikanische
Sommerakademien wie Tanglewood oder Aspen zählen. Festivalintendant
Michael Haefliger, einst Violinstudent an der Juillard School, kennt
diese Unternehmungen aus eigener Erfahrung. Neu an Luzern ist nun
aber, dass ein so groß angelegtes pädagogisches Projekt
eingepflanzt ist in ein europäisches Traditionsfestival, das
sich noch bis vor wenigen Jahren in erster Linie als Konzertveranstalter
für ein eher konservatives Publikum verstand. Nun wird dieses
Publikum in vorsichtigen Schritten an die Moderne herangeführt.
Die Methode scheint zu funktionieren. Nicht nur bei den Auftritten
der internationalen Gastorchester, die häufig ein Werk des
20. Jahrhunderts im Programm hatten, sondern auch bei den öffentlichen
Abschlussveranstaltungen der Festival Academy.
Das Orchesterkonzert, das mit Werken von Birtwistle, Kyburz, Schönberg
und Boulez dem Programm nachempfunden war, das Boulez vor drei Jahren
auf einer Tournee mit dem Ensemble Modern Orchestra dirigiert hatte,
geriet zum gefeierten Schluss- und Höhepunkt der Akademie.
Als Publikumsmagnet erwies sich nicht zuletzt der prominente Solist
in Schönbergs Klavierkonzert, Maurizio Pollini, und von Boulez’
„Notations“, die das Orchester mit Verve zu Gehör
brachte, musste die fulminante zweite zum Schluss wiederholt werden.
Gute Vermittlungsarbeit
Die Öffnung zur Gegenwart, ein zentrales Anliegen der Festivalleitung,
wird mit geschickter Vermittlungsarbeit vorangetrieben. Ein „Academy
Forum“ mit fachkundigen Einführungen, Probenbesuchen
und Komponistengesprächen gab an zwei Wochenenden einem breiteren
Publikum bei freiem Eintritt die Möglichkeit, die Werkstatt
aus der Nähe zu besichtigen und sich auf die Konzerte mit Neuer
Musik einzustimmen. Vom Angebot machten nicht nur „normale“
Festivalbesucher, sondern auch zahlreiche Studierende und musikalische
Fachleute Gebrauch.
In Haefligers Strategie, das Lucerne Festival langsam, aber sicher
in der Gegenwart zu verankern, ist die Boulez-Akademie von entscheidender
Bedeutung. Er ist überzeugt: Wenn richtig budgetiert wird und
finanziell alles gut läuft, kann man auch Wagnisse eingehen.
Es sieht ganz danach aus, dass seine Rechnung auch künstlerisch
aufgeht.