[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/12 | Seite 1
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Leitartikel
Zwischen Praxisgebühr, Hartz IV und Ich-AG
Die musikalisch-kulturpolitische Bilanz eines Jahres ·
Von Martin Hufner
Am Ende eines Jahres drängt es sich geradezu auf, das vergehende
Revue passieren zu lassen. Das kann man machen, indem man der emotionalen
Aspekte, der Schocks und Freuden sich noch einmal vergewissert.
Ach ja, so war das Jahr, man hätte es fast vergessen. Denn
der Terror der Aktualität, wie ihn der Essayist Jean Amery
geißelte, lässt einem ja keine Wahl. Das Aktuelle steht
immer auf der Agenda. Aber darum geht es hier nicht. Das Aktuelle
hat seine Wurzeln im Vergangenen.
Als Kulturschaffende haben wir große Freude am Jammern, zumal
es uns immer wieder übel genommen wird. „Jammern auf
hohem Niveau“ nennt sich das dann gerne. Schon im letzten
Jahr konterte
Theo Geißler in der nmz gegen den Vorwurf des Alt-Bundeskanzlers
Helmut Schmidt: „Wollen wir jetzt auch Weltmeister im Jammern
werden? Wieder erleben wir einen schwarzmalerischen Herdenjournalismus
in Deutschland“ mit „Jede Form von Klage oder Kritik
wird mit Arbeitslager geahndet. Jammernde Journalisten werden in
Kabul zwangsakkreditiert, damit sie einen echten Grund haben.“
„Denke positiv“ dachte sich daher im Mai
2004 an dieser Stelle Stefan Piendl: „Kaum ein Tag vergeht
ohne Negativ-Schlagzeilen aus der Musikwelt. Zum Beispiel der immer
weniger stattfindende Musikunterricht an den Schulen, Diskussionen
über zu schließende Orchester und Opernhäuser, die
sich zuspitzende Lage der Musikwirtschaft. Die Liste ließe
sich noch deutlich verlängern. Das Wehklagen ist nicht neu,
im Gegenteil: es geht manchem schon gehörig auf die Nerven“
(nmz, 5/04). Stefan Piendl beschwor den Schulterschluss der am Musikleben
Beteiligten: „Musiker aller Bundesländer vereinigt euch
– und erweckt die Idee des ,Tages der Musik‘ zum Leben,
jedes Jahr aufs Neue.“ Das war verständlich und auch
für die neue musikzeitung, die er gleichfalls kritisierte,
neu.
Man darf sich aber dann doch fragen, wie stand es denn um diese
große Familie der Musiker oder an Musikinteressierten? Alles
nur Waschlappen und Elendsbeschwörer? Nein, wir sind gut und
haben uns lieb. Wirklich? Familienstreitereien, wo man auch hinsieht.
Gleich zu Beginn des Jahres gab es einen heftigen
und noch nicht beigelegten Streit zwischen der GEMA und den deutschen
Phonoverbänden. Es ging um Urheberabgaben bei Tonträgern
und mittelbar auch bei Internet-Musik-Download-Plattformen. Einer
gab dem anderen die Schuld am Nichtzustandekommen von Verhandlungen.
Die Familie der Musiker und Musikinteressierten, der Verkäufer
und Käufer, der Kunden und Autoren wurde fragil befragt. Es
ging auch im Hintergrund um die Frage: Wer verdankt wem was? Die
Verwerter den Künstlern, die Verkäufer den Verwertern
den Künstlern oder umgekehrt. Ein unnötiger Streit um
den Primat, wer das musikalische Zepter führe. Das beanspruchte
nicht gerade leise im Mai die Phonowirtschaft: „Die Phonowirtschaft
ist der wichtigste Investor in inländische musikalische Kreativität.
Von der Ertragsfähigkeit der inländischen Tonträgerunternehmen
hängt deshalb die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit der
inländischen Musikszene ab.“ Wenn es denn so wäre.
Aber die Familie hat sich doch im Rahmen der Entwicklung der Novellierung
des Urheberrechts zusammengefunden. Der alte Sparkassenslogan heißt
nun: „Wenn’s ums Geld geht: Urheber.“
Wie schnell sich die Koalitionen verändert haben, konnte
man dann am Spätsommertheater um die Einführung
einer Quote für deutsche oder deutschprachige Anteile im
privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunk (2)sehen.
Einerseits schließen die Plattenmajors konsequent ihre inländische
Künstlerförderung und stellten – wie bei BMG –
zahlreiche Musiker vor die Tür, nicht ohne gleichzeitig für
die Deutschquote einzutreten. So ist das Geschäft. Die Vertreter
des Rundfunks sahen dagegen gleich einmal ihre Unabhängigkeit
gefährdet, verweisen auf Musikantenstadl und schicken gleichwohl
ein Rundfunkorchester
wie beim Bayerischen Rundfunk in die Wüste. Grund: eine
ungenügende Erhöhung der Rundfunkgebühren. Eine große
Familie sind wir, Musik lieben alle, und darum haben wir uns alle
lieb. Eitel Sonnenschein, eigentlich. Aber beim Gelde hängen
alle an ihren Anwälten, und der ehemals implizite Ehevertrag
zwischen Musik und Gesellschaft platzt wie ein ungedeckter Scheck.
Der Politikwissenschaftler Charles Taylor fragte einmal: „Wieviel
Gemeinschaft braucht die Demokratie?“ Diese Frage, die auch
stark die Frage nach dem Begriff der Solidarität berührt,
bekommt ein immer bedeutsameres Gewicht. In den modernen Demokratien
setzt sich dabei offenbar ein Lösungsansatz durch. Man traut
der demokratischen Selbstorganisation nicht mehr und überlässt
die Ausgestaltung der Demokratie dem Markt. Taylor schreibt dagegen:
„Wenn es gelingt, den Bürgersinn zu mobilisieren, bringen
die einzelnen im Zuge gemeinsamen Handelns oft erstaunliche Opfer
für den anderen oder für das Gemeinwohl.“
Blickt man unter diesem Aspekt auf das zu Ende gehende Jahr, dann
sieht man außerhalb der engeren Musikperspektive Reizworte,
die allesamt in eine andere Richtung weisen: „Praxisgebühr“,
„Hartz IV“, „Rechtschreibreform“, „Folterandrohung“,
„Ich-AG“, „Selbstbedienungsmentalität“,
„Florida-Rolf“, „Ich bin ein Star, holt mich hier
raus“. Ja, lebt denn der alte Holzmichel noch? Daher tut ein
Blick ins Jahr 2003 not.
In Coburg wurde per Bürgerentscheid über den Fortbestand
einer Musikschule entschieden. Ebenfalls an dieser Stelle schrieb
Andreas Kolb in der Novemberausgabe 2003 der nmz: „Ein
in Deutschland bislang einmaliger Vorgang, über den Fortbestand
einer Musikschule per Volksabstimmung zu entscheiden. 37,6 Prozent
votierten für die Weiterführung der Kreismusikschule Coburg,
die vom Kreistag ersatzlos zum 31. August geschlossen worden war.
69,7 Prozent stimmten für die Nichtfortführung –
ein klares Ergebnis.“ Ein originär demokratisches Verfahren,
der Bürgerentscheid, in der Funktion eines geistigen Plumpsklos.
Dagegen steht immer noch der vielfach von Eltern geäußerte
Wunsch, Kinder zur Musikschule zu schicken. Auch Otto Schilys Diktum
zur Wahrung der inneren Sicherheit durch Musikschulen ist immer
noch im Ohr. Bloß, welche Folgen hat das gehabt? Pfffffft.
Schöne Worte helfen manchmal einfach wenig oder meistens gar
nicht.
Und was ist von des Bundeskanzlers
Worten zu halten, anlässlich des
175-jährigen Jubiläums des Deutschen Musikverlegerverbandes.
Gerhard Schröder lobte da: „Ich finde, Ihr Engagement
als Verband gemeinsam mit anderen Verbänden im Deutschen Musikrat
war wichtig, ist wichtig und wird wichtig bleiben. Sie können
wirklich mit Recht in Anspruch nehmen, dass Sie in Ihrer Arbeit
und mit Ihrer Arbeit eine der großartigsten kulturellen Traditionen
in unserem Land repräsentieren“ und nun lasst mich wieder
in Ruhe, verschwieg er, verschwand und widmete sich wieder einer
Nabel-Show mit Talktratschtante Reinhold Beckmann. Danke, Herr Bundeskanzler,
aber warum klingt das bei ihnen immer auch nach letzter Ölung?
Womit man beim Deutschen Musikrat wäre.
Der hat nun endlich
einen Generalsekretär in Berlin bekommen und ist auch endlich
und endgültig aus dem Insolvenzverfahren heraus. Nicht zu übersehen
sind allerdings auch dort Kämpfe im Präsidium. Jens
Michow hatte als Vizepräsident keine Lust mehr, fühlte
sich unverstanden und verabschiedete sich klanglos krawallartig:
„Wenn man nichts mehr bewegen kann, sollte man aufhören.
Ich bin nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung
gelangt, dass sich meine Vorstellung von Verbands- und vor allem
Teamarbeit nicht länger mit der Arbeitsweise meiner engsten
Präsidiumskollegen vereinbaren lässt.“ Der Präsident
des Deutschen Musikrats, Martin
Maria Krüger, wedelte daraufhin mit dem Kopf: „Herrn
Michows Entscheidung … stellt in einem demokratischen Dachverband
ein honoriges Verhalten und gewissermaßen einen Normalfall
dar.“ So geht man um in einer kultivierten Familie, gewissermaßen.
Mit Dieter Gorny ist dann eine Art unsichtbarer, aber namhafter
Gast nachgerückt.
Es gab weitere Abgänge in diesem Jahr: Mit dem Brand der
Weimarer
Anna-Amalia-Bibliothek gingen wertvolle Noten und Schriften
für immer verloren, Lars von Trier inszenierte in Bayreuth
doch nicht, mit Carlos Kleiber verstarb ein außergewöhnlicher
Dirigent, die Berliner
Symphoniker sind abgewickelt und halten sich dennoch tapfer über
Wasser, manches Theater musste einzelne Sparten schließen,
die Downloadplattform
„Phonoline“ existierte nur knapp sieben Monate.
Aber auch Zugänge sind zu verzeichnen: Im Mai wurde die Europäische
Union um zehn neue Länder im Osten Europas erweitert und damit
neues Terrain aufgetan für die Musikwirtschaft und die Musizierenden
sowie neue Erfahrungen im Umgang mit Musikkultur. Es wird sich weisen.
In letzter Zeit hat sich dann noch einer weit aus dem Fenster gelehnt
und einen neuen Begriff für diejenigen geprägt, die sich
engagiert um kulturelle Vielfalt und Respekt vor der Kunst bemühen.
Der Hörfunkdirektor
des Norddeutschen Rundfunks nannte sie unappetitlich in seinem NDR-Klassik-Magazin
„Kultur-Ajatollahs“. Damit passt er wunderbar in
die, und da ist man wieder beim Aktuellen, Auseinandersetzung um
den Begriff einer Leitkultur.
Für den Rundfunk scheint das Leitmedium nicht mehr das Hören
oder auch das Zuhören zu sein, sondern die Zahl, genauer die
so genannte Quote und ihre Vermessung. Das ist der Tabernakel der
Familie geworden, die sich nicht länger aus Menschen zusammensetzt
sondern, aus losgelassenen Daten. Das geißeln nicht nur zahlreiche
Hörer, sondern auch der Musikverlegerverband. Dagmar
Sikorski in der nmz 10/04: „So hat es etwa der NDR geschafft,
gerade noch 45 Minuten in der Woche für zeitgenössische
Musik bereitzustellen. Der NDR hat keine tägliche Kindersendung
mehr, die länger als fünf Minuten dauert. Das ist nicht
das, was wir uns unter Förderung von musikalischer Bildung
vorstellen.“ Der MDR war vorausahnend schnell und benannte
seine Kulturwelle
am 1. Januar 2004 in „Figaro“ um.
Und nun: PISA schockiert zum zweiten Mal. Mittel der Wahl schien
in diesem Jahr die Einführung von Studiengebühren. Wie
bitte? Eine Art bildungstechnische Praxisgebühr mit der sich
nachweisen lässt, wer denn wirklich studieren und nicht schmarotzen
will. Anfang des Jahres träumte noch mancher SPD-Politiker
von Elite-Universitäten für die Besten der Besten. Nichts
gelernt? Man sollte auch mal eine PISA-Studie über die politischen
Führer der Industrie-Demokratien machen; vor allem was das
Textverständnis angeht. Einen
Nachhilfekurs gibt es übrigens in dieser nmz mit Rainer Dollases
Artikel zur Bildungspolitik.
Ach ja: Und Stefan Piendls Wunsch nach einem „Tag der Musik“
dürfte durch den neuen Bundespräsidenten Köhler wieder
in weiter Ferne liegen. Der alte, Johannes Rau, machte sich am Ende
seiner Dienstzeit unter Musikern noch viele Freunde, leider etwas
zu spät, um konkreter in die Zukunft zu sehen. So, genug gejammert,
2005 wird ein fantastisches Jahr, wir werden tanzen, feiern und
glücklich sein. Es wird ein Jahr der Musik werden und wir werden
uns in den Armen liegen, wir Armen (durchschnittlicher Nettogewinn
von Künstlern, laut Künstlersozialkasse: 11.000 Euro).