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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 1
54. Jahrgang | November
Leitartikel
Ein Komponist fällt aus der und in die Zeit
Helmut Lachenmann wird siebzig Jahre alt und begegnet in Paris
Mozart · Von Gerhard Rohde
Der Komponist Helmut Lachenmann wird am 27. November 2005 siebzig
Jahre alt. Die Musikwelt wird ihm an diesem Tag mit schriftlichen
und verbalen Huldigungen die Reverenz erweisen. Das Musikleben feierte
ihn schon zuvor mit entsprechenden Bewunderungen. Kein Festival,
kein Konzerthaus, kein avanciertes Orchester präsentierte sich
in diesen Wochen und Monaten ohne ein Werk von Lachenmann. Und die
Anerkennung seines kompositorischen Schaffens wird auch über
das Geburtsdatum hinausgehen – fast eine Sensation: In der
Pariser Cité de la Musique werden Ende Januar 2006 in sechs
Konzerten unterschiedlichster Ensembles Werke Helmut Lachenmanns
mit Kompositionen des anderen Jubilars Wolfgang Amadeus Mozart korrespondierend
konfrontiert. Was ist nur mit der Neuen Musik geschehen? Strebt
sie in die Charts?
Helmut Lachenmann 2002 bei den Salzburger Festspielen, wo
sein „Mädchen mit den Schwefelhölzern“
aufgeführt wurde.
Foto: Charlotte Oswald
Eine unnötige Befürchtung, wenn man an Helmut Lachenmann
denkt. Gleichwohl stimmt es nachdenklich, dass ausgerechnet ein
Helmut Lachenmann plötzlich aus dem magischen Kreis des Introvertierten,
des Schwierigen und sich gegen jede Vereinnahmung sperrenden Künstlers
hinaustritt in eine Gesellschaft, die das Wort Reflexion nicht kennt.
Wer die Terminliste des Komponisten im Monatsheft seines Verlages
Breitkopf und Härtel liest, könnte den Eindruck gewinnen,
Helmut Lachenmann wäre ein Popstar: Alicante, Berlin, Bogota,
Budapest, Cambridge, Essen, Frankfurt, Göteborg, Köln,
Karlsruhe, Luzern, Mailand, Oslo, Straßburg, Stuttgart, Wien
– wer, so möchte man mit Schiller fragen, kennt die Völker,
nennt die Namen?
Über Helmut Lachenmann und sein Schaffen wird also noch viel
zu berichten sein. Die neue musikzeitung hat sich deshalb entschieden,
auf den üblichen Geburtstagsartikel zu verzichten, der nur
das wiederholen würde, was ohnehin schon gesagt ist. In dieser
Ausgabe finden unsere Leser auf den Seiten 46/47 Berichte über
Lachenmann-Aufführungen in
Frankfurts Alter Oper und beim Festival
in Schwaz. In der letzten nmz-Ausgabe beschrieb Max
Nyffeler ausführlich Lachenmanns neueste Komposition „Concertini“.
Wir werden auch über die weiteren Veranstaltungen berichten.
Was uns im Zusammenhang mit dem Geburtstag des Komponisten bewegt,
ist etwas anderes. Und dieses Andere greift aus in die Situation
der Neuen Musik in der Gesellschaft, im Musikleben allgemein. Helmut
Lachenmann war und ist kein Komponist, der sich irgendeinem wie
auch immer gearteten Trend anschließt. Seine Musik ist der
unablässige Versuch, eine Musiksprache zu entwickeln, deren
Ausdrucksmittel dem Empfinden und dem intellektuellen Anspruch unserer
Zeit entsprechen, ohne dabei die Erfahrungen und Leistungen der
Vergangenheit zu ignorieren. Wer Lachenmanns Musik kennt, weiß,
wie schwierig dieses Neu-Erfinden einer zeitadäquaten Musik
ist, weiß aber auch, dass Helmut Lachenmann diesem Anspruch
mit kongenialen Werken geantwortet hat.
Aus dem unerwarteten Interesse, ja der Begeisterung, auf die Lachemanns
Komponieren auch und vor allem bei jungen Menschen stößt,
möchte man, mit aller Vorsicht, einen positiven Schluss ziehen:
Es will scheinen, dass die Neue Musik, langsam aber stetig, von
einer neuen Generation, zu der auch Ältere gehören dürfen,
als Ausdruck nicht nur der Zeit, sondern, und das wäre entscheidend,
auch der eigenen Identität akzeptiert wird. Der überwältigende
Zuspruch, den die Donaueschinger Musiktage schon seit langem, aber
besonders in diesem Jahr gefunden haben, mag für diese Entwicklung
ein markantes Zeichen sein (siehe Seite 44). Man könnte dieses
Zeichen vermehren um die Namen Witten, Schwaz, Musica Strasbourg,
Wien modern, Stuttgarts „Éclat“ – um nur
einige zu nennen. Vor diesem optimistisch stimmenden Hintergrund
der Neuen Musik erscheint es besonders widersprüchlich, dass
einige, nicht ganz unmaßgebliche, gleichwohl ignorante Institutsleiter
der Neuen Musik mit fadenscheinigen Argumenten (Einschaltquoten)
die Existenzberechtigung zu beschneiden versuchen. Der Fall des
SWR-Vokalensembles mag als besonders aktuell für die Tendenz
stehen, produktive, schöpferische Kräfte zu zerstören.
Die Neue Musik braucht hochqualifizierte Interpreten. Das Wechselspiel
zwischen Komponist und Interpret ist ein besonders signifikantes
Charakteristikum für die Musik unserer Zeit. Niemand weiß
das so gut, wie der Komponist Helmut Lachenmann.
Im Programmbuch des SWR-Vokalensembles für die neue Saison
steht dazu Lesens-und Bedenkenswertes. Aber wer liest noch in den
oberen Etagen?