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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 1
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Leitartikel
Vom langen Marsch durch die Redaktionen
Musikkritik und Neue Musik – Anmerkungen zu einer Tagung
in Karlsruhe · Von Andreas Kolb
Zwei Meldungen aus dem angelsächsischen Sprachraum sind paradoxerweise
Zustandsbeschreibung auch fürs Kulturland Deutschland. „Die
traditionelle Musikkritik wird auch in den USA gerade abgewickelt“ meldete
die Süddeutsche Zeitung Ende November und führte als
Fallbeispiel die wöchentlich erscheinenden Publikationen „L.A.
Weekly“, „Chicago Reader“ und „Village
Voice“ an. Ob da der Splitter im Auge des anderen gesehen
wurde statt des Balkens im eigenen, mag hier dahingestellt sein.
Fast zeitgleich kam aus England die Nachricht über den „No
Music Day“, der dort zum dritten Mal begangen wurde. Während
die Musiklobbyisten hierzulande noch einen bundesweiten Tag der
Musik planen, haben sich auf Initiative des ehemaligen Popsängers
Bill Drummond Radiosender und andere Einrichtungen, aber auch Privatpersonen,
etwa iPod-Träger, dazu verpflichtet, auf Musik in jeder Form
einen Tag lang zu verzichten. Während Konzertbetrieb und Unterhaltungsindustrie
soviel Musik wie nie produzieren, wecken sie gleichzeitig das Bedürfnis
nach ihrem Gegenteil – der Stille.
Nur der Unterhaltungsindustrie die Schuld an dieser permanenten
kakophonen Berieselung zu geben, wäre zu einfach. Mit täglich
1,7 Uraufführungen allein in Deutschland trägt auch die
so genannte Neue Musik ihren Teil zur Reizüberflutung bei.
Das Schema ist dabei immer das gleiche: Uraufführung, Rezension,
zwei Wiederaufführungen, dann verschwindet das Werk und wird
nie mehr hervorgeholt. Ausnahmen bestätigen die Regel: Furrers „Fama“ wird
2008 in Salzburg wieder gespielt, Spahlingers Klavierwerk „Farben
der Frühe“ kam in jüngerer Zeit mehrfach zur Aufführung.
Sowohl die Veranstalter als auch die Musikkritik haben es nicht
verstanden, die Werke der letzten 50 Jahre in einen Kanon aufzunehmen
und dem Publikum zu vermitteln. Die wenigen Ausnahmen – darunter
Lucerne Festival, musica viva München, das neue werk in Hamburg,
die Kasseler Musiktage, Musik der Jahrhunderte in Stuttgart oder
Musik der Zeit in Köln – bestätigen die Regel.
Nun sind 50 Jahre keine Zeit in der Rezeptionsgeschichte großer
Kunst, das bezeugt die Wahrnehmung von Beethovens Spätwerk
durch Publikum und Presse. Auch vergessene und erst Jahrzehnte
später wiederentdeckte Komponisten wie Satie, Antheil und
Varèse zeigen, dass Vermittlung Zeit braucht. Während
das Publikum in die Museen neuer Kunst strömt, sicher nicht
nur um Kunst zu sehen, sondern auch um selbst gesehen zu werden,
gilt die Anstrengung, sich eineinhalb Stunden Neuer Musik auszusetzen,
auch heute noch als Zumutung.
Vermittlungsbemühungen gibt es von verschiedener Seite. Über
die neueste, das Netzwerk Neuer Musik, berichten wir ausführlich
in dieser Ausgabe (Seite 15ff.). Ein Anlass, einmal an dieser Stelle über
die Rolle der Musikkritik nachzudenken, über die Aufgabe der
neuen musikzeitung, aber auch über den Wandel der Musikkritik
in den Feuilletons der Tageszeitungen, die im Gegensatz zur nmz
nicht nur ein Fachpublikum ansprechen.
Einen Lichtblick scheint ein Foto auf Seite 44 dieser Ausgabe
zu bieten, auf dem zu sehen ist, wie sich zahlreiche junge und
angehende
Musikjournalisten während der Tagung „Musikjournalismus
und Neue Musik“ in Karlsruhe in einem Hörsaal drängen,
um von etablierten Feuilletonisten und Komponisten in die Kunst
des Schreibens über Musik eingeführt zu werden. Das heißt
zum Teil heute noch „Vokabular pauken“, wie einige
Fallbeispiele auf den Seiten
42 bis 43 beweisen.
Die Vision: Wenn jeder dieser Teilnehmer sich einen publizistischen
Arbeitsplatz erschreiben und erarbeiten wird, dann müsste
er doch damit auch automatisch Platz für die Neue Musik erkämpfen.
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Denn bekanntlicherweise
zählen die Musikredakteure in einer Tageszeitung eher zu den
Exoten. In der Rangfolge der Ressorts kommen ihre Seiten erst lange
nach Politik, Sport und Reiseblatt.
Und für die Vermittlung durch den Hörfunk erweist sich
die E-Musik oft als zu sperrig – sowohl die Werke der Großmeister
aus Barock, Klassik und Romantik als auch die der Gegenwart sind
nicht fürs Drei-Minuten-Format des modernen Radios konzipiert.
Dabei muss man nicht einmal an Stockhausens großen Opernzyklus „Licht“ denken.
Rühmliche Ausnahmen gibt es etliche, diese Sendungen beginnen
dann allerdings um 23 Uhr. Versuche Klassik populär zu machen,
etwa auch kompatibel fürs Fernsehen, endeten bislang regelmäßig
in Häppchenkultur und Starrummel, wie etwa beim Klassik Echo.
Einen Platz für die Neue Musik können Redakteure und
Rezensenten nicht erkämpfen und erhalten, solange sie „nur“ in
den Konzertsaal gehen und von dort ihre 80 oder 100 Zeilen liefern.
Das ist zu wenig. Ein bisschen müssen sie sich schon die Edelfeder
schmutzig machen und sich um die Bedingungen des Musikmarktes,
insbesondere des Neue-Musik-Marktes kümmern. Egal ob als Spezialfestival,
als Konzertreihe oder als integraler Bestandteil von Spielplänen,
auch Neue Musik finanziert sich über den Dreiklang von Subvention,
Sponsoring und Kartenverkauf. Kulturpolitischer Wille ist dabei
genauso wichtig wie der künstlerische.
Wir laden die jungen Karlsruher Autoren gerne dazu ein, sich
einmal um den puk-Preis der Zeitung politik und kultur des Deutschen
Kulturrates
zu bewerben. Arbeiten bisheriger Preisträger machen deutlich,
dass es nicht nur feuilletonistischer Autoren bedarf, sondern auch
kulturpolitischer. Um der Neuen Musik den „Platz freizuhalten“,
wie es der Komponist Markus Hechtle in seiner Eröffnungsrede
zur Karlsruher Kritikertagung einfordert (Nachdruck
auf Seite 41),
braucht es weitere musikpolitisch tätige Publizisten als puk-Preisträger.