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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 1-2
53. Jahrgang | Februar
Leitartikel
Die Neue Musik bedarf keiner Rechtfertigung
Bedrohliche Tendenzen und babylonisches Stimmengewirr ·
Von Gerhard Rohde
Mit der aktuellen Situation der Neuen Musik in Deutschland beschäftigen
sich mehrere Artikel in dieser Ausgabe der nmz. Albrecht Dümling
macht sich unter dem Titel „Ernste
Musik in der Spaßgesellschaft“ Gedanken über
das Europäische Komponistengespräch 2003 in Berlin (Seite
3), von Udo Zimmermann kann man in Auszügen das Statement nachlesen,
das er als Direktor der Abteilung Musik der Akademie der Künste
in Berlin soeben der Öffentlichkeit zuleitete („E
und U im Streit“, Seite 8).
Auf derselben Seite unternimmt Christian Wilckens, Vorstandsmitglied
des Composers Club (CC), den Versuch, das Verhältnis zwischen
E-Komponisten und den CC-Komponisten sachlich darzustellen, nachdem
es nach der letzten GEMA-Aufsichtsratswahl, wo nur noch ein E-Komponist
ins Gremium gewählt wurde, zu zum Teil scharfen kritischen
Auseinandersetzungen zwischen den komponierenden Parteien und in
der Öffentlichkeit kam („Böse
Composer, gute Komponisten?“). Auch in anderen Publikationen
beschäftigt man sich mit dem Thema, so der Präsident des
Deutschen Musikrates, Martin Maria Krüger, im GEMA-Pressespiegel,
wo er die veränderten Bedingungen für die Neue Musik in
der Musikratsarbeit schildert, und in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift
„Musik & Ästhetik“ beschäftigt sich gleich
ein Dutzend prominenter Autoren, Musiker, Dirigenten, Intendanten,
Komponisten mit der „Gegenwärtigen Lage von Kunst und
Kultur“.
Wer alle diese Aufsätze und Kommentare gelesen hat, verspürt
das dringende Bedürfnis, in einen guten Weinkeller zum Verkosten
hinabzusteigen oder mit einem Pflanzenbestimmungsbuch in die Natur
auszuschwärmen.
Das wäre höchstwahrscheinlich und letztendlich produktiver
und pfleglicher für den individuellen seelischen Haushalt.
Aber es geht andererseits doch um die Musik, damit auch ums „Seelische“,
und so mischt man wieder mit und sich ein in die Endlos-Debatte
über Kunst, Kultur, Musik und überhaupt. Und zum xten
Mal wettert man mit dem Dirigenten Hans Zender wieder wider den
flachköpfigen Zeitgeist, sorgt sich um die Zukunft der Neuen
Musik, deren schwindende Akzeptanz beim Publikum und bedrohliche
finanzielle Situation, und ärgert sich zuletzt noch über
manche Festivals der Neuen Musik, wenn sogar diese sich besagtem
Zeitgeist „crossovermäßig“ anbiedern.
Dabei hat der große Luigi Nono schon vor zwei Jahrzehnten
die kommenden Entwicklungen präzis beschrieben, die wachsende
„Ökonomisierung der Kultur” und die damit verbundene
„Versimpelung des Denkens“. Max Nyffeler zitiert in
seinem beckmesser-glossarium (auf Seite 8) dazu Nonos kritische
Gedanken: dass der Markt mit seinen Forderungen nach schnellen Lösungen
keine offenen Fragen mehr zulasse. Es gäbe aber Fragen, die
hätten keine Antworten. Die Manie, alles zu erklären,
alles zu beweisen, alles zu organisieren, alles zu systematisieren,
führe zum Tod der Kultur – Luigi Nonos Warnungen, sie
werden heutzutage in einer Art Umkehrverfahren als verbindliche
gesellschaftliche und politische Spielregeln in der öffentlichen
Kulturdebatte fröhlich und hemmungslos als neue Realität
ausgegeben. Man kann das endlose, von Ahnungslosigkeit und Nichtwissen
durch-zogene Gequatsche schon lange nicht mehr hören, und muss
sich doch immer wieder gegen den galoppierenden, immer mächtiger
sich aufplusternden Unverstand zur Wehr setzen. Diesen Anspruch
stellt die Kunst in ihren weit verzweigten Ausdrucksformen unablässig
an ihre Verteidiger. Eigentlich bräuchte sich die Kunst nicht
zu verteidigen, so wie niemand auf den Gedanken käme, von Physik
oder Chemie große Publikumsresonanz oder hohe Einschaltquoten
wie im Fernsehen zu verlangen. Weil das aber nur schwer in die Köpfe
hineinzubringen ist, müssen immer wieder diese erschöpfenden
Diskurse geführt werden – manchmal fühlt man sich
schon wie der Hauptmann in Büchners „Woyzeck“.
Um sich auf die Musik zu konzentrieren: die Neue Musik –
wir wollen das „Neue“ groß schreiben, weil beide
Worte zusammen als Begriff verstanden werden – ist auch und
vor allem in ihrer Komplexität ein Forschungsgegenstand. Das
beweist allein schon die Existenz ihrer Forschungsinstitute, beispielsweise
das IRCAM in Paris, das Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung
des SWR, aber auch die avancierten Festivals der Neuen Musik wie
Donaueschingen oder Witten dürfen, trotz des riesig gewachsenen
Publikumszuspruchs, den Forschungscharakter für sich reklamieren
– die häufigen Klagen über schwache Jahrgänge,
wie beim Wein, oder angebliche Alterungserscheinungen übersehen
besserwisserisch diesen Forschungsaspekt. Auch in einem naturwissenschaftlichen
Laboratorium misslingen reihenweise angesetzte Experimente. Niemand
wird deshalb verlangen, das Labor zu schließen.
Der primär experimentelle Charakter Neuer Musik verweist
Fragen nach der Akzeptanz beim Publikum in die zweite Reihe, wenn
man sie denn überhaupt einordnen will. Die Stringenz, die dieser
Experimentier-Charakter entwickelt, unterscheidet die avancierten
Komponisten der Neuen Musik – die wichtigsten Namen dürfen
als bekannt vorausgesetzt werden – von Crossover-Spezialisten,
„Composern“ oder Popartisten. Man will und sollte auch
nicht deren Arbeit als zweitklassig oder gar überflüssig
berümpfen, wie es manche strenge E-Komponisten gern praktizieren.
Das Bestreben, „Neues“ und „Anderes“ an
ein größeres Publikum zu bringen, ist legitim, auch die
finanzielle Förderung kann von Fall zu Fall akzeptiert werden.
Was jetzt jedoch im Deutschen Musikrat geschieht, die zur Verfügung
stehenden Mittel anders zu verteilen, den Pop-Bereich kräftiger
zu fördern, hinter dem naturgemäß die stärkeren
Publikumsbataillone stehen, und bei der Neuen Musik die Förderung
entsprechend zurückzufahren, kann so nicht hingenommen werden.
Die Neue Musik ist keine Musikrichtung wie andere, sondern ein,
wie oben ausgeführt, eigenständiger “Gegenstand”,
der nicht mit den üblichen Bewertungen eingeordnet werden darf.
Die veränderte Behandlung der Neuen Musik im Deutschen Musikrat
könnte man vielleicht achselzuckend noch übersehen, wäre
sie nicht ein negativ besetztes Signal, das andere zur Nachahmung
anreizt. Es gibt schon genügend Beispiele. Ein besonders bedenklich
stimmendes ist die Präsenz der Neuen Musik im Rundfunk: Weniger
immer später. Das Populäre ist auch hier im Vormarsch.
Löbliche Ausnahmen unterstreichen nur die missliche Regel.
Dabei hat der Schweizer Kulturkritiker Urs Frauchiger unverändert
recht, wenn er schon vor zwei Jahrzehnten Tendenzen kritisierte,
die sich im Radio seines Heimatlandes ausbreiteten: Wenn hunderttausend
Rundfunkteilnehmer James Last hören möchten und einer
Schönberg, so heißt die Lösung für das Sendeprogramm
nicht hunderttausend Stunden James Last und eine Stunde Schönberg,
sondern eine Stunde James Last und eine Stunde Schönberg. Das
sei, so Frauchiger, wahrhafte Demokratie, die auch den einzelnen
zu gleichem Recht verhilft. Von solcher Demokratie sind wir heute
weit entfernt.