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nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 1
56. Jahrgang | November
Leitartikel
Aktienkurse aus dem Komponierhäuschen
Ein Plädoyer für die Autonomie des einzelnen Künstlers
und sein Werk · Von Gerhard Rohde
Worte, Worte, antwortet Hamlet auf die Frage des Polonius, was
er da gerade lese. Derzeit flirren Worte, Worte nur so durch Gazetten,
Sitzungsprotokolle, Symposien, Ausschüsse und überall
dort, wo sonst noch über „Kultur“ geredet wird.
Das Wort Kultur taucht allerdings dabei vorwiegend im Zusammenhang
mit anderen Worten auf. Zwei stechen besonders hervor: Kreativität
und Wirtschaft. Über alles kann man unendlich lange und ausführlich
diskutieren. Zuletzt hat sich der Deutsche Musikrat des Themas
bemächtigt – siehe
unseren Bericht über eine Tagung
in Berlin auf Seite 14.
Donaueschinger
Musik-Filmtage: Salome Kammer in dem Suchspiel „Ortswechsel“ für
Live-Video, Film und Musik von Edgar Reitz und Johannes
Kalitzke, zu unserem Donaueschingen-Bericht auf den Seiten
37/38.
Foto: Charlotte Oswald
Das allgemeine Dauergerede gleicht inzwischen einer neuen Babylonischen
Sprachen- und Begriffsverwirrung. „Kreativwirtschaft, was
ist das eigentlich?“ – fragt einer. „Kultur ist
unsere Zukunft.“ – nennt eine Partei ihr Papier. Woanders
mutiert die Kreativwirtschaft schon zur Kreativindustrie. In Berlin
hat der Wortschwall schon die Dimensionen eines Kawenzmanns erreicht – einer
besonders hohen Meereswelle. Wir wollen hier nun nicht noch eine
weitere Wortmeldung zum Thema verbreiten – vieles, was gegenwärtig
diskutiert wird, konnte man in der neuen musikzeitung schon vor
20 Jahren lesen. Vorschläge, Anregungen, wie man Musik, Kunst,
Kultur über deren spezielle Institutionen hinaus durch das
Engagement weiterer gesellschaftlicher Kräfte in Wirtschaft,
Politik, Wissenschaft und Technik so miteinander verknüpfen
könnte, dass synergetische Effekte zum Vorteil und Nutzen
aller gewonnen würden. Man wurde zwar angehört, aber
kaum verstanden, geschweige denn, es wäre etwas geschehen.
In der augenblicklichen Hektik, zu der Theo Geißler in der
vorletzten nmz-Ausgabe als treffende Abwandlung eines Zitats formulierte,
dass Kunst nicht (mehr)
von Können, sondern von Rechnen komme,
erscheint es notwendig, auf ein, allerdings wieder einmal bedrängtes,
Gegenbild zu zeigen. In Donaueschingen, wo seit 1921 die bekannten
Musiktage mit zahlreichen Uraufführungen stattfinden, erschien
am Rande ein hier schon bekanntes Menetekel an der Wand: Wieder
einmal ist vom übernächsten Jahr an die Finanzierung
nicht gesichert. Seit sich der Südwestrundfunk vor einigen
Jahren aus der Alleinfinanzierung des Avantgardefestivals verabschiedet
hat und die Musiktage nur mit Hilfe von Sponsoren aufrecht erhalten
werden können, hängt ständig das Damoklesschwert über
der Veranstaltung, dass der eine oder andere Großsponsor
nach Ablauf der meist dreijährigen Vertragsfrist aussteigt.
Jetzt ist es bald wieder soweit: Die Kulturstiftung des Bundes
könnte sich zurückziehen.
Ein unzumutbarer Zustand für die künstlerisch Verantwortlichen
der Musiktage. Sie müssen schließlich mehrere Jahre
vorausplanen, Aufträge vergeben, mit Komponisten und deren
Verlagen verhandeln, das Notenmaterial aufführungsreif bereitstellen.
Wenn aber die Finanzierung nicht gesichert ist, was dann? Eine
schöne Wirtschaft, auf jeden Fall im negativen Sinn. Und kreativ
ist das schon gar nicht. Dabei: wenn etwas kreativ in der Musik
ist, dann sind es doch wohl Musiktage, bei denen neue Werke vorgestellt
werden.
Kreativwirtschaftler werden nun vielleicht einwenden, dass sich
Institutionen wie Donaueschingen ohnehin nicht rechnen, auch wenn
die Konzerte gut besucht sind, allerdings zu nicht besonders hohen
Eintrittspreisen. Schließlich möchte man ja die meist
nicht so finanzstarke, an Neuer Musik interessierte Jugend erreichen.
Was darüber hinaus immer stärker in der veröffentlichten
Meinung hervortritt: das ist die zunehmende Missachtung der individuellen
künstlerischen Leistung. In Donaueschingen wurde, gleichsam
als klingendes Argument, ein neues Werk des französischen
Komponisten Marc André uraufgeführt, Teil einer Trilogie,
deren weitere Aufführungen andernorts erfolg(t)en: in Baden-Baden
und München (siehe
unseren Bericht über Donaueschingen
auf Seite 37). Marc André zählt zu den großen
Hoffnungen der Neuen Musik, seine Werke stellen erhebliche Ansprüche
an den Rezipienten, auch an die Interpreten. Es ist eine Musik
von großer innerer Gespanntheit, von hoher Bewusstheit, die
viel von den Schwierigkeiten mitteilt, mit einem Kunstwerk auf
die ästhetischen Herausforderungen einer immer komplizierteren
und komplexeren Gegenwart zu „antworten“. Es ist Kunst,
die von Können kommt und sich erst dann rechnen wird, wenn
etwas von ihrer Bewusstheit auch in die Köpfe von Kreativ-
und Kulturwirtschaftlern eingedrungen ist.
Dasselbe gilt auch für ein zweites Werk, das in Donaueschingen
erstmals präsentiert wurde: die ersten drei Teile von Hans
Zenders großformatigen „Logos-Fragmenten“ für
32 Stimmen und 3 Orchestergruppen. Auch dieses Werk antwortet auf
die Herausforderungen unserer Zeit, stellt einen hohen Anspruch
an jeden einzelnen Zuhörer.
Wogegen man sich wehren muss: gegen die wachsende Vereinahmung
des autonomen Kunstwerks und des einzelnen Künstlers durch
die nachgeordneten Verwerter. Diese haben selbstverständlich
im Kunstbetrieb ihre zugeordnete und durchaus sinnvolle Aufgabe.
Es gilt aber, die Grenzen zu beachten, die einige zuständige
Institutionen allmählich aus den Augen zu verlieren scheinen.
Im Komponierhäuschen werden Noten geschrieben, nicht Aktienkurse
notiert. Siehe dazu auch nebenstehendes
Editorial sowie den „Nachschlag“ auf
Seite 12.