1999/2000
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Kupo / MedienSeite 6Autor:
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Das Ende der Bescheidenheit ist längst erreicht, ich sage nichts Neues. 465 Millionen Mark kostet der Neubau des Bundeskanzleramts in Berlin-Tiergarten, was selbst den Bundesrechnungshof aufregt. Nur zum Beispiel. „... und die Musik spielt dazu.“ Skinhead-Bands traten niemals bescheiden auf; sie nannten sich „Doitsche Patrioten“, „Oiphorie“ oder „Volksverhetzer“ und verkündeten den „Blutrausch“: „Keine Macht hält Dich jetzt auf“. Aber das ist fast schon Schnee von gestern. „Autonome Kameradschaften“, jetzt die Jungen Nationaldemokraten, haben auch Höflichkeit im Programm, zu alleinstehenden deutschen Müttern und hilflosen alten Menschen, mit Volksliedern auf der Zunge und dem Ziel immer neuer „national befreiter Zonen“ in Ostdeutschland. Der Baseball-Schläger wird nur gegen „undeutsche“ Minderheiten eingesetzt. Neonazis beherrschen das Klima vieler ostdeutscher Kommunen in ländlichen Gegenden. Und sie haben mit Vertriebssystemen von CDs, mit Homepages und dergleichen Teil an der „Globalisierung“. Vor Ort droht „die große Gefahr einer Art Schattengesellschaft“ (Anetta Kahane), die gewähren lässt, den fehlenden Schutz von Minderheiten schweigend hinnimmt. Das ist die schlechteste Nachricht des Jahres.
Sie weckt geschichtliche Erinnerungen. Etwa an den frühen Nationalsozialismus und den deutschen Apotheker Gregor Strasser, der später auf Befehl Hitlers erschossen wurde (mit Röhm, Schleicher und anderen). Oder daran, dass der deutsch-jüdische Publizist Heinz Liepman Anfang 1959 öffentlich fragte: „Müssen wir wieder emigrieren?“ und dass in der Weihnachtsnacht 1959 die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und „Juden raus“ beschmiert wurde. Hat die Musik auch dazu gespielt? Kann Musik eine Katastrophe aufhalten? Schwer zu denken, dass, wer musiziert, bereit zum Töten ist. Aber es gibt Gegenbeispiele... Musik reagiert auf Katastrophen. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden 1921 die Donaueschinger Musiktage, nach dem Zweiten 1946 die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. In den sechziger Jahren begann etwas, das man eine Öffnung nennen kann und mit gleichem Recht eine Regression. Gibt es einen Zusammenhang zwischen politischer und musikalischer Regression?
Zwei Ereignisse der letzten Zeit waren und sind diesem Zusammenhang auf der Spur. Beide Male wurde deutlich, dass Musik ein Akt des Laut werdenden Denkens ist. Eines war das von Hanns-Werner Heister geleitete Weimarer Forschungsprojekt über „Moderne und Antimoderne im Spannungsfeld des 20. Jahrhunderts“. Sie hatte ihr hoffentlich weitere Anstöße gebendes Verdienst darin, dass sie die Brüchigkeit des Musikästhetischen aufzeigte, seine jederzeit mögliche Indienstnahme. Goebbels’ klug gesetztes Dunkelwort von der „Stählernen Romantik“ – zur Eröffnung der Reichskulturkammer am 15. November 1933 in der Berliner Philharmonie – bezeichnete „die Doppelgesichtigkeit von Gewalt und Faszination“ (Bernd Sponheuer). Das zweite dieser Ereignisse ist der „deutsche Zyklus“, der an der Hamburgischen Staatsoper als Gemeinschaftswerk des Dirigenten Ingo Metzmacher und des Regisseurs Peter Konwitschny mit „Lohengrin“, „Wozzeck“ und dem „Freischütz“ begann, sich mit „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ und dem „Rosenkavalier“ fortsetzen wird. Wie inszeniert man deutsche Gespenster, den Wald als das Gleichnis des Heeres (Canetti), „stählerne Romantik“? Für diesmal, am „Freischütz“, blieb die Frage so offen wie die Sache selbst ist: der deutsche Mehrwert.
Ach Sloterdijk. Hat man vieles zu ihm und seinen Thesen – wenn es denn welche sind – gelesen, auch von denen, die ihm offensichtlich zugeneigt waren (wie der namhafte Tübinger Philosoph Manfred Frank, ein Generationsgenosse), bleibt nur ein Fazit: Philosophischer Unfug. Oder modisch gewendet: War da was?
Gleichwohl ist die Gentechnik mit ihrem unaufhaltsamen Fortschreiten in der Welt. Und weil das so ist, muss sich kritisches Denken zu ihr verhalten. Sloterdijk raunt um den heißen Brei he-rum. Er tut auch „nicht viel, um den Nazijargon zu vermeiden“ (Manfred Frank). Das interessiert ihn, den vermeintlich von aller überichhaften Väterlichkeit Befreiten, wenig oder gar nicht. Es hätte ihn aber interessieren sollen. Wie eben auch die Frage, ob wir das, was die Gentechnologie auf den Markt wirft, eigentlich wollen und warum vielleicht nicht. Die Marktorientierung mit dem „Zauberwort“ der Effizienz steht in den USA außer jeder Diskussion. In Südostasien, berichtete jüngst ein Reisender, werde nur noch über den Zeitpunkt der Einführung sogenannter positiver Eugenik diskutiert, nicht über die moralische Berechtigung. Aber: Beruht der Schrecken in vielen Reaktionen nur auf der Angst, moralische Gewissheiten zu verlieren, wie der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin vermutet?
Lassen wir einmal (wenn’s auch schwer fällt) „den ethischen Skandal“ beiseite, „der in der Klonierung von Menschen liegen würde“ (Hans Ernst Schiller). Im sogenannten „biotechnischen Zeitalter“ wird der Organismus auf die Gene reduziert, es kommt – so H.E. Schiller – zu einer „Entorganisierung des Organischen“. An dessen Stelle tritt die Information im Sinne der Kybernetik, die ja in den sechziger Jahren schon die Ästhetik-Diskussionen dominierte. Gegenwärtig seien Gen-Technologie und Reproduktionsmedizin vor allem „ein glänzendes Geschäft“ (Schiller). Und weiter: „Markt und Macht sind nicht von Hause aus fremd. Der Markt nimmt als etwas, an das man sich mit biologischen Maßnahmen anpassen muss, selbst die Gestalt einer biologischen Umgebung an.“ So gehört auf einer Hamburger Tagung der Ernst-Bloch-Assoziation mit dem Hauptthema „Anthropologie und Natur“, die sich solcherart in die aktuelle Diskussion einklinkte. „Die Natur hat uns vergessen“, sagt Hamm in Becketts „Endspiel“, und Clov antwortet: „Es gibt keine Natur mehr.“
Goethe-Jahr und Bach-Jahr, Strauss-Jahr und Strauß-Jahr – Jahre der Heroen. Vielleicht sind diese ausladenden Betriebsamkeiten nur Maskenspiele, in denen die Namensgeber allmählich verschwinden. Die nachwirkendste Inszenierung des Goethe-Jahres bot mit ihren vielfachen literarischen, auch philosophischen Brechungen das Gegenstück: Maskierung zur Kenntlichkeit. „Urfaust, tragédie subjective“, verstehbar als eine ironische Tragödie des Subjekts, war eine Produktion des Théâtre Ubu aus dem kanadischen Montréal im Geist des Fernando Pessoa (1888–1935), des großen Geheimnisvollen aus Portugal. Weimar, „Kulturstadt Europas 1999“, und die Berliner Festwochen hatten sich beteiligt. Eine Collage aus dem Goetheschen „Urfaust“, „Faust“-Texten von Pessoa und einem Gedanken aus dem Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein. Was so kompliziert klingt, gewann unter den Händen von Denis Marleau den Charme animierender Nüchternheit, die sanfte Überzeugungskraft souveräner Kühle. Das Bekannte, lange nicht mehr Befragte wurde fremd gemacht und aufs Neue kenntlich. Faust war hier ein Wittgenstein-Vorgänger, Mephisto ein Abbild Pessoas, Gretchen nicht leidende, sondern eigensinnige Gestalt romanischer Herkunft. Der Epilog opponierte mit Wittgenstein gegen das Fortleben der Seele des Menschen nach dem Tode. Mephisto, Gott der Fantasie und Nachtgestalt: einer von uns? „Die Musik, der Mond und die Träume sind meine magischen Waffen“ (Pessoa). Musik ist nicht nur, was man hört, sondern auch die ungehörte „bis ans Ende aller Zeiten“. Deutsche Innerlichkeit, frei nach Heine, leb wohl! In der Tiefe des Gemütes dräuen nur Gespenster, braune Horden.
Claus-Henning Bachmann
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