2000
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Der TED, in diesem Fall schön altmodisch als Abstimmung mit den Füßen, brachte ein klares Ergebnis: Gewonnen hat die Alte Musik im stimmungsvollen Ambiente historischer Architektur und in Regensburg seit Mitte der 80er-Jahre ohnehin bestens etabliert. Für die Neue Musik blieb nur ein Mauerblümchen-Dasein in funktionalen Sälen – prima vista zumindest. Täuschte der erste Eindruck?
Komponist Wilhelm Killmayer, Jahrgang 1927, das Einzelgängertum jenseits aller Schulen ohnehin gewohnt, wirkte fast euphorisch: Nachdem in der St. Oswald-Kirche der Altmusik-Star Mark Kroll und der große Kommunikator und Neue-Musik-Impresario Siegfried Mauser in einem janusköpfigen Doppel-Konzert Bachs Schemelli-Gesangsbuch und Killmayers Hölderlin-Lieder für Tenor (Christoph Prégardien) und Klavier geboten hatten, sprach er vom Ausbruch aus dem Ghetto der Spezialisten-Zirkel. Die Neue-Musik-Gurus, die meist ihre Fans mit Namen und Anschrift kennen, sind bescheiden geworden.
Trotzdem: Das Millenniums-Experiment, das leider ein einmaliges Ereignis bleiben soll, ist geglückt. Es machte auch Sinn. Denn Alte und Neue Musik haben viel gemeinsam. Zuerst einmal die Gegner: also die klassisch-romantische Repertoire-Klassik von Mozart bis Mahler, welche die publikumswirksamen Konzert-Reihen nach wie vor, wenn auch leicht abbröckelnd, bestimmt; und ein Musik-Verständnis, das im Orchester nur die Gesamt-Klang-Maschine sieht und den totalen, manche meinen den totalitären Überwältigungs-Sound erstrebt. Alte und Neue Musik suchen jenseits von „marschierenden“ Formationen, von Effekt und Sentiment die Klarheit der Struktur und das Recht der einzelnen Stimme. Das überträgt sich auch auf Haltung und Verhalten bei Alt- und Neu-Musik-Festivals: die sind vergleichsweise entspannt und egalitär und, vor allem, experimentierend.
Regensburg hatte da einige Highlights zu bieten. Fünf davon seien genannt: Volker Banfield, der unter dem Stichwort „Neue Virtuosität“ acht Etüden von György Ligeti und Teile von Olivier Messiaens gewaltigem „Vingt Regards sur L‘Enfant-Jésus“-Zyklus vortrug und in seinem jederzeit cool-distanztierten und begeisternden Vortrag gleich mehrere Vorurteile wegwischte: den der Unspielbarkeit der Neuen Musik genauso wie den ihrer Unhörbarkeit. Banfield demonstrierte, dass Ligeti und Messiaen nicht Gefühl und Körperlichkeit (ver)meiden, sondern nur den Kitsch, der, gleichsam handelsüblich, „erleichternd“, an ihre Stelle getreten ist. Ligeti und Messiaen sind nicht „kopfig“ oder abstrakt. Sie wissen aber, dass es Authentizität nicht jenseits der Zeichen gibt, sondern nur in ihnen und durch sie. Kodierung und Körperlichkeit sind für sie kein Gegensatz. So etwas wie „Transzendenz“ erscheint nicht im diffusen, sondern im klaren Denken.
Werkstatt-Atmosphäre herrschte beim Freiburger Ensemble Recherche, das „The IN NOMINE Witten Broken Consort Book“ aufführte, ein serielles Work-in-Progress-Gemeinschafts-Projekt, das Varianten einer alten Struktur weiterdenkt: Vieles war da beliebig, austauschbar, aber die Grundintention wurde spürbar: eine Musik zu (er)finden, die Innerlichkeit nicht privatisiert und Konzentration nicht als Ausrede für Passivität gelten lässt. Diese Neue Musik (samt ihrer Vorgänger) leistet klanglich das, was etwa Artaud für das Theater versuchte: ein Besetzen der Szene, des Raumes jenseits von Schminke, Maskerade, Kostüm; ein Sound-Erlebnis im offenen, „existenziellen“ Raum, in dessen Mitte man sich unverhofft und verblüfft findet. Was schon beim Ensemble Recherche spürbar wurde, nämlich die Nähe der Musik zu Stille, Schweigen, aber auch Geräusch, das führte das Arditti Quartet, vielleicht das wichtigste Streich-Ensemble dieser Tage, an vier kammermusikalischen Meisterwerken der letzten Jahrzehnte vor: Wolfgang Rihm, oft als Populist verschrien, zeigt sich in seinem 8. Streichquartett als einer, der innig ironisch ein Resümee aller Wege und Abwege der Neuen Musik zieht. Die Musik wird da selbstreflexiv; spätestens dann, wenn die Partitur, nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern in strengster Lektüre, mit dem Geigenbogen traktiert und schließlich, exakt nach Anweisung, zerknüllt und zerrissen wird. Helmut Lachenmann ist da strenger. Sein „Reigen seliger Geister“ macht Musik paradoxerweise gerade dadurch neu hörbar, dass sie das Ohr an den Rand der Wahrnehmung treibt. Lachenmann pariert den Lärm durch Stille, die plötzlich, als „existenzieller Klang“ sehr laut, jedenfalls unüberhörbar wird. John Cage wiederum („Four“) durchlöchert die Macht der Hierarchien durch konsequente Permutation: Wer sagt denn, dass das, was einer spielt, seiner „Natur“ entsprechen muss. Sein spätes Streichquartett jedenfalls funktioniert gerade über den Tausch (und die Austauschbarkeit) der Stimmen. Wenn der eine die Position des anderen einnimmt, entsteht etwas überraschend Neues.
Pädagogischer ging das Ensemble La Fantasia, verstärkt durch den jungen Geiger Benjamin Schmid und durch Siegfried Mauser, vor: In einem „Sonaten-Marathon“ verfolgte es das Schicksal der dominierenden Form abendländischer Musik durch vier Jahrhunderte. Das Resultat: Karriere machen kann nur, wer offen ist für Neues. Die Sonate blieb en vogue, weil sie sich ständig änderte. Handelt es sich also nur um einen zufälligen Namen? Das würden nur strenge Nominalisten behaupten – und sich dadurch des „Mehrwerts“ einer faszinierenden Metamorphose berauben.
Das Klangforum Wien zeigte mit Kompositionen der klassischen (Schönberg, Varèse) und der neuesten (Kyburz, Furrer) Moderne, was vielleicht die größte Novität der vergangenen Jahrzehnte ist: dass man sich nicht mehr durch große Sounds überwältigen lässt, sondern als aktivierter Zuhörer fast so etwas wie einen Co-Komponisten-Status erhält. Die Moderne schafft Raum – für Eigenes. Henzes überwältigendes spätes Requiem, der großartige Schluss-Akzent des Klangforums in der Dreieinigkeitskirche, wäre, so gesehen, fast prä-modern. Ein gewaltiges theatrum mundi, inszeniert am Abgrund der Hölle, voller Widerstand gegen das Widerwärtige: kein zur Ruhe kommendes, tröstendes Requiem, sondern eins der Revolte und des Lärms; heute in seiner wüsten Verzweiflung überzeugender als der brechtianisierende Henze der 70er-Jahre.
Das Festival für Alte Musik soll nicht völlig übergangen werden. Es ist zu Recht längst etabliert, weil die Veranstalter Stephan Schmid und Ludwig Hartmann nie aufs große Publikum schielten (das dann doch „strömte“), sondern auf ihrem Terrain Avantgarde sein wollten. Dass das nach den entschiedeneren Anfangsjahren heute nicht mehr streng, puristisch, exklusiv bedeuten muss, zeigen Gruppen wie das Florentiner „Modo Antiquo“, das mit „Carmina Burana“ ein ungeniert saufendes und „hurendes“ Mittelalter entwarf, das zugleich exotisch und nah wirkt, weil es, im Gesang wie im Gestischen, ans Menschlich-Allzumenschliche appelliert, das angeblich weder historischen Index noch Verfallszeit kennt. Das suggeriert auch „Bottom’s Dream“ aus New York, die in ihrem „Caffè d’Amore“ einen musikalischen Aperitif in einem Akt servierten, der ankam, weil er natürlich vor allem zeitloses Theater, nein: jeden und alles meinende Show war.
Helmut Hein
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